: Wenn solches in der DDR passiert wäre!
betr.: „Kinder, Strafrecht, Sexualdelikte“ von Oliver Tolmein, taz vom 22. 10. 99
[...] In bester Konkret-Manier, die geradezu zwanghaft jedenText zuvörderst und zur Not tiefenhermeneutisch auf etwaige deutschtümelnde Sinngehalte hin durchsucht, stört den Autor zum einen weniger die Kritik am Vorgehen der US-Justiz als solche als deren antiamerikanischer Unterton. Rekordinhaftierungsquoten, die unter anderem auch bagatellartige „Delikte“ von Kindern umfassen, Hinrichtungen im Akkord, die offensiv vertretene Zunahme folterartiger Bestrafungen und dergleichen bei gegebenenfalls völlig unzureichender anwaltlicher Hilfe findet nun einmal in den USA, dem theoretischen Hort aller Menschenrechte, statt, und darum kann die Kritik hieran gar nicht laut und antiamerikanisch genug sein. Als Standardgedankenexperiment bietet sich in Deutschland vielmehr immer die Frage an, wie die Reaktionen wohl ausgefallen wären, wenn solches in der DDR passiert wäre. Weitere Kommentierung insoweit überflüssig.
Zum Zweiten schlagen sich in der – mit Verlaub, grotesken – Bewertung der „Deliktschwere“ offenbar die Spätfolgen der unseligen unterschwelligen Allianz von so genannten Feministen/innen und konservativen Strafhardlinern nieder. Nein, auch wenn die Vorwürfe der Anklage gegen den elfjährigen Raoul zutreffen sollten, würde es sich um kein „schweres Delikt“ wie „Totschlag, Raub oder schwere Brandstiftung“ handeln, denn qualitativ anders als hierbei müssen/ sollten bei Sexualdelikten Aspekte wie Reifegrad und Beziehungsgestaltung der Beteiligten schon bei der Betrachtung der „Tat an sich“ berücksichtigt werden. In dem hier inkriminierten Vorgang ist daher keine Analogie zu einem Totschlag zu suchen, der eben von einem Kind begangen wurde, das Opfer aber gleichwohl getötet hat, sondern eher etwas wie ein überzogenes Doktorspiel, das von den Sanktionierungsinstanzen auch als solches zu behandeln ist, wenn nicht jegliches Augenmaß verloren gehen soll. In der Befürchtung, die allgemeine Empörung über den Vorgang indiziere keineswegs ein prinzipielles Umdenken in der Diskussion um die kindliche Strafmündigkeit, ist Herrn Tolmein aber wohl leider Recht zu geben.
Lutz Klein, Marburg
Dass der Artikel von O.Tolmein nicht nur für würdig gefunden wurde, an prominenter Stelle der taz veröffentlicht, sondern auch noch am gleichen Morgen in den Pressestimmen des SWR 2 zitiert zu werden, macht überdeutlich, welches Wohlwollen mittlerweile sogar die mit Hand- und Fußfesseln praktizierte Folter an Kindern in unserer selbstgefälligen, von einer immer größer werdenden Zahl an Sozialarbeitern und Psychotherapeuten umstellten westlichen Wertegemeinschaft gefunden hat. Die „sündige“ Fummelei eines Elfjährigen an seiner fünfjährigen Schwester als „schweres Delikt“ gar mit dem Totschlag auf die gleiche Ebene stellen zu wollen und gleichzeitig Woche für Woche gebannt auf die Lüsternheiten von „Peep“ oder „Liebe Sünde“ zu starren, könnte als moralische Perversion wohl nur noch von einem Präsidenten überboten werden, der seine Zigarre nicht etwa einer Büroangestellten, sondern seiner eigenen Schwester zwischen die Beine gesteckt hätte (so er eine hat). Antiamerikanismus? – Es hat noch nie einer Nation gut getan, sich selbst für die größte zu halten! Günter Hartmann, Freiburg
[...] Es ist überhaupt nicht zu fragen, ob ein ähnlich lauter Aufschrei im Falle von Raub- und Tötungsdelikten erfolgt wäre. Nur weil im Fall oben genannter Delikte in Deutschland eine kaum verhohlene Zustimmung zum Vorgehen der US-Justiz zum Ausdruck kommt, kann doch jetzt im Falle eines elfjährigen Jungen nicht für ebensolches Vorgehen plädiert werden.
Es wäre doch wohl angemessener, auch bei Raub- und Tötungsdelikten einen humanen Umgang mit den Täter-Kindern und -Jugendlichen zu fordern und vor allem eine Chance zur Korrektur. In Deutschland und den meisten europäischen Ländern wäre der Junge einem Psychologen vorgestellt worden und hätte mindestens eine 50:50-Chance, eventuelles Fehlverhalten zu korrigieren. Welche Möglichkeiten sehen Sie für ihn nach den „Erlebnissen“, die er im Rahmen der siebenwöchigen Haft überstanden hat und die im Falle einer Verurteilung vor ihm liegen? [...] Karin Muschol, Plauen
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