dvdesk: Wenn sie nackt sind, sieht man die Narben
Eigentlich heißt er mit Vornamen Wellington, wie der britische General. Im Gespräch mit einem Kunden, mit dem er Sex haben wird, nennt er sich Cléber, so hieß ein junger Mann, den er im Knast kennengelernt hat. Der Mann, mit dem er eine Beziehung beginnt, der ihn auch zur Sexarbeit bringt, sei kein Baby, sagt Ronaldo, als Wellington abhaut, um vor der Zudringlichkeit eines Kunden zu fliehen. Baby ist der Name, den Wellington sich daraufhin gibt. Und Wellington/Cléber/Baby (João Pedro Mariano) ist zwar schnell reich an Namen, aber nicht an Jahren. Vor dem Vorspann ist er im Knast, in dem er zwei Jahre saß, danach ist er draußen. Und gerade mal achtzehn.
Draußen ist: São Paulo, sind die Straßen der Stadt, in denen er gleich Kontakt aufnimmt zu den durch die Nacht voguenden queeren Freunden von früher. Seine Eltern, erfährt er – erfährt er erst jetzt –, haben die Großstadt verlassen. Die Mutter Friseurin, der Vater Polizist, er hat aus Scham über den Sohn seinen Job an den Nagel gehängt und in der kleinen Stadt seiner Herkunft anders weitergemacht. Kein einziges Mal haben sie ihn im Gefängnis besucht. Was genau Wellington angestellt hat, erfährt man nur als Gerücht: die Schule angezündet, angeblich ist dabei jemand ums Leben gekommen, aber das leugnet er strikt.
Wellington sucht Job, Unterkunft, Anschluss, Familienersatz. Und gerät so an Ronaldo (Ricardo Teodoro), mehr als doppelt so alt, der als Escort und mit dem Verticken von Drogen sein Geld verdient. Und Wellington wird sein Lover und Sexarbeit-Schüler, es ist eine Beziehung, die beiden etwas gibt, das sie brauchen, nicht nur das Geld, nicht nur den Sex. Der Film tut den Teufel, darüber ein Urteil zu fällen.
Er will zeigen, dabei sein, beobachten, ohne Distanz und ohne Aufdringlichkeit. Manchmal zoomt er ins Geschehen hinein, oft geht es vor allem um die Lichter und das Dunkel der Großstadt in der Nacht, manchmal fadet die Kamera die Personen im Hintergrund in die Unschärfe weg: Empathie mit den Figuren kann auch heißen, sie von Zeit zu Zeit in Ruhe zu lassen. Und empathisch ist dieser Film, gegen das Klischee seines Milieus keineswegs düster, auch wenn die Gewalt, nicht zuletzt als brutale Polizei- und Staatsmacht, ihre mehr als bedrohlichen Auftritte hat. Es ist, gegen die Macht, ein Film der ungesicherten Existenzen, aber auch der selbstbewussten und lebendigen Körper. Wenn sie nackt sind, sieht man die Narben.
Nichts wird verklärt, aber die Farben sind warm, und nicht nur die kurzen Vogue-Auftritte, mit denen die queere Freundestruppe in Bussen Geld zu machen versucht, rücken „Baby“ vom kitchen sink weg in Richtung Melodram. Wenn auch ganz bewusst runtergedimmt auf Straßenniveau.
Das Drama nimmt Regisseur Marcelo Caetano nach Möglichkeit raus. So wird das Suchen und Wiederfinden der Eltern (plus Baby-Schwester) eine bewegende, aber emotional ganz und gar nicht zugespitzte Sache. Mit großer Selbstverständlichkeit kommt auch Ronaldos Vorgeschichte ins Bild: mit Kind und Ex-Frau, die nun aber mit einer ehemaligen Prostituierten zusammenlebt.
Und so wird zwar vor allem Wellingtons Geschichte erzählt. Sein Driften von Ronaldo zu einem älteren Mann, Alexandre, in dessen sehr nobler Wohnung und sehr fremden Welt er eine Weile einen Safe Space findet, oder auch mehr. Dann zurück auf die Straße, zu den Freunden, am Ende eine Zufallswiederbegegnung mit Ronaldo im Bus, die zuletzt noch einmal die Perspektive verschiebt. Wellington, der im Lauf des Films seinen 19. Geburtstag feiert, blickt in eine ganz offene Zukunft.
Ronaldo, der ältere Mann, hat mehr als einen Verlust zu beklagen. Ekkehard Knörer
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