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Archiv-Artikel

Wenn der Hunger laut wird

Die Hungernden der Welt werden wieder wahrgenommen. Ihre Zahl steigt allerdings schon seit Jahren stetig an. Trotzdem hält der IWF an seiner fatalen Politik fest

Die Politik redet nicht mit den Betroffenen, sondern nur über sie. Kleinbauern gelten nicht als Experten

Die Zahl der Hungernden lag 2007 bei 854 Millionen. Etwa drei Viertel von ihnen leben im ländlichen Raum. Es sind vor allem Kleinbauern, Landlose, Indigene und Hirten. Die Politik der vergangenen Jahrzehnte hat sie systematisch diskriminiert. Die öffentliche Unterstützung sowie Entwicklungsgelder für die Nahrungsmittelproduktion in den Ländern des Südens wurden radikal zusammengestrichen. Wenn überhaupt Gelder in den ländlichen Raum flossen, dann in eine agroindustrielle Exportlandwirtschaft. Die durch Weltbank und den Internationalen Währungsfonds (IWF), die Welthandelsorganisation (WTO) und regionale Freihandelsabkommen erzwungene Marktöffnung führte zu Importfluten und tat damit ein Übriges, um die kleinbäuerliche Nahrungsmittelproduktion zu verdrängen.

Als Hauptargument für die Marktöffnung muss seit je das Interesse der Verbraucher an niedrigen Preisen herhalten. Diese Strategie aber entpuppt sich als fatale Sackgasse. Aufgrund von Missernten, steigender Nachfrage, des Booms der Agrartreibstoffe und der Spekulation explodieren heute die Weltmarktpreise für Getreide. Und siehe da: Genau die Länder, wie Haiti und Honduras, die ihre Reisproduktion zu einem großen Teil aufgegeben haben, können sich die Importe nicht mehr leisten. Eine Gefahr, vor der Entwicklungsexperten seit Jahren vergeblich gewarnt hatten. „Der Hunger kehrt zurück“, titelte unlängst die Tagesschau in einem Dossier. Das ist falsch: Denn der Hunger war nie verschwunden. Doch heute ist er hörbarer denn je, weil nun auch die städtische Bevölkerung betroffen ist. Diese bringt ihren Ärger traditionell lauter zum Ausdruck als die Bauern in ländlichen Randgebieten.

In den letzten Jahren haben sich die Staaten im Rahmen der Strukturanpassungsprogramme mehr und mehr von ihren völkerrechtlich verankerten Pflichten verabschiedet, das Menschenrecht auf Nahrung sicherzustellen. Angesichts der aktuellen Hungerrevolten ist es daher umso zynischer, dass nun Weltbank und IWF, die zentralen Kräfte hinter dieser Entwicklung, mit einem Laib Brot vor die Presse treten und sich zu Anwälten der Hungernden und Armen aufschwingen. Gerade jetzt, so Robert Zoellick unbeirrt, sei die Liberalisierung der Agrarmärkte das Gebot der Stunde.

Dass die Weltbank gleichzeitig eine stärkere Förderung der Landwirtschaft im Süden ankündigt, mag man zunächst begrüßen. Die entscheidende Frage wird aber sein, ob dieses Geld den kleinbäuerlichen Nahrungsmittelproduzenten zugutekommt oder doch eher den Exporteuren von Blumen, Ananas, Erdnüssen und Palmöl.

Eine weitere Liberalisierung, etwa über die WTO-Verhandlungen, würde die Probleme langfristig verschärfen. Und selbst kurzfristig ist die Wirkung fraglich. Denn angesichts der grundsätzlichen Lebensmittelknappheit löst die Öffnung der Märkte nicht das Problem, dass es zu wenig zum Importieren gibt.

Hoffnungszeichen kommen indes aus den Philippinen: Dieses Land, das in den letzten 20 Jahren zum abhängigen Reisimporteur wurde und nun besonders unter den steigenden Kosten von Reis leidet, hat ein umfassendes Förderprogramm für den Landwirtschaftssektor ins Leben gerufen. Das so genannte Fields-Programm soll die Ernährungssicherung über die heimische Produktion wiederherstellen, indem besonders die armen Bauernfamilien bei der Produktion und Vermarktung von Grundnahrungsmitteln unterstützt werden sollen. Das ist ein wichtiger Schnitt in der Agrarpolitik des Landes, die bisher besonders auf die Steigerung von Exporten ausgerichtet war. Es bleibt daher abzuwarten, wie sich die konkrete Umsetzung des Programms gestalten wird.

Was also sollte die internationale Staatengemeinschaft tun, um der Krise Herr zu werden? Zunächst muss sie kurzfristig ihre Hilfen hochfahren und die direkten Auswirkungen der Preisentwicklungen auf die Armen abfedern. Wie die jüngste Zusage mehrerer Geber von 755 Millionen Dollar an das Welternährungsprogramm zeigt, geschieht dies teilweise bereits. Parallel dazu aber müssen langfristige Strategien ausgearbeitet werden, die sowohl auf die spezifischen Probleme der städtischen wie auch der ländlichen Bevölkerung Antworten haben. In diesem Zusammenhang wird das Instrument der Transferleistungen für arme Gruppen heiß diskutiert. Notwendig ist aber auch und vor allem, die vorherrschende Agrarpolitik und deren Zielsetzungen grundlegend zu überdenken. Im Zentrum einer Neuausrichtung muss das Menschenrecht auf Nahrung stehen. Das bedeutet, eine stabile, selbstkontrollierte Nahrungsmittelproduktion für lokale und regionale Bedürfnisse zu ermöglichen. Dies muss Vorrang haben vor dem Anbau von Produkten für den Export. Staaten benötigen dringend den politischen Handlungsspielraum, dieses Ziel durch Förderung der eigenen Landwirtschaft und Schutz vor Billigimporten umsetzen zu können. Die bislang nur theoretische Vorherrschaft der Menschenrechte vor dem Handelsrecht muss in die Praxis umgesetzt werden.

Wie groß die Schieflage hier ist, zeigt sich aktuell etwa bei den Diskussion um die Agrartreibstoffpolitik. Deutschland und die Europäische Union wollen ihre Beimischungsquoten nicht an menschenrechtliche Mindeststandards binden. Sie begründen dies insbesondere damit, dass dies für die WTO eine Wettbewerbsverzerrung und damit einen Verstoß gegen das Handelsrecht darstellen würde. Eine fatale Prioritätensetzung.

Anfang Juni veranstaltet nun die Welternährungsorganisation der Vereinten Nationen (FAO) eine internationale Konferenz zur Ernährungssicherheit. Dass sie damit den Nerv der Zeit triff, zeigt sich nicht zuletzt an der immer prominenter werdenden Teilnehmerliste. Unter anderem haben sich Angela Merkel, Nicolas Sarkozy und der brasilianische Präsident Luiz Lula angekündigt. Die Konferenz entwickelt sich zu einem Gipfeltreffen und könnte eine wichtige Rolle bei einer Neuausrichtung der globalen Agrarpolitik spielen.

Der Hunger war nie verschwunden. Heute wird er laut, weil auch die städtische Bevölkerung betroffen ist

Allerdings wird dort Politik ohne die Betroffenen gemacht. Es wird über sie geredet, aber nicht mit ihnen. Die wichtigen Bauern- und Nichtregierungsorganisationen, die in der FAO ansonsten vergleichsweise viel Gehör finden, sollen diesmal nicht mit an den Tisch. Das ist nicht nur ein schlechtes Omen, sondern auch ein Verstoß gegen das menschenrechtliche Grundprinzip einer effektiven Partizipation der betroffenen Gruppen.

Und während den Bauernorganisationen die Tür vor der Nase zugeschlagen wird, reicht man dem Privatsektor die Hand – mit der lapidaren Begründung, dass dies eine Expertenkonferenz sei. KleinbäuerInnen sind demnach für die FAO keine Experten in Sachen Landwirtschaft. Das Problem aber ist: Nur wenn diese Gruppen effektiv integriert sind, also wenn sie mit entscheiden können, welche Politik für sie die geeignete ist, kann eine Agrarpolitik nachhaltige Hungerbekämpfung gewährleisten. ROMAN HERRE

Fotohinweis:Roman Herre, 1972, ist Diplom-Geograf und arbeitet als Agrar-Referent bei FIAN Deutschland. FIAN setzt sich als internationale Menschenrechtsorgansation für die Durchsetzung des Menschenrechts auf Nahrung ein.