: Wem der Frühling schlägt...
■ ...oder: eine Mai-Geschichte ganz ohne Randale
Die Sonne scheint, an den Straßenrändern blühen Krokusse und Maiglöckchen. Kinder und Hunde werden ausgeführt, vor dem »Mistral« in der Gneisenaustraße sitzt Herr Kunert, eingemummelt in einen dicken Mantel, trinkt Bier und dichtet. Vor dem »Lokus« am Marheineckeplatz flegeln sich junge Leute auf den frisch gestrichenen Bänken herum, befingern ihre Bräune aus Gomera, lesen durch dicke Sonnenbrillengläser die Zeitung oder bemitleiden still, aber tief befriedigt die Bleichgesichter der Daheimgebliebenen — kein Zweifel, in Kreuzberg ist der Frühling eingezogen.
Die Autofahrer jagen wieder Radfahrer, die Radfahrer jagen Fußgänger, Fußgänger jagen über die Straßen, immer bemüht, der Hundescheiße und den zahlreichen Kinderwagen auszuweichen. Wenn mir das alles zu bunt wird und ich die Frühlingslaune meiner Mitmenschen nicht mehr ertragen kann, gehe ich zum Carl-Herz-Ufer.
Dort sieht man am hellen Tag Männer und Frauen in Schlafanzug und Morgenrock herumspazieren. Einige von ihnen haben Arme oder Beine dick bandagiert, tragen Halskrausen und weiße Turbane. Vor einer Pommesbude steht ein Mann, der in seiner linken Hand eine Flasche hält. Aus der Flasche führt ein Schlauch, der im Handrücken des Mannes endet. »Pommes, Mayo, Ketchup«, bestellt er. Paßt irgendwie, denke ich. Die Pommes zum Haar, die Mayo zur Gesichtsfarbe und der Ketchup zum Handrücken.
Wir sind schnell im Gespräch. Hans arbeitet auf dem Bau. Seine Schulter brach, als er unglücklich stürzte. Traurig zählt er seine Krankheiten auf: Blutdruck zu hoch, Leben im Arsch, die Lunge pfeift »wie eine Lokomotive«. Und nun auch noch der Bruch. Das Leben ist schon ungerecht. Sein Kollege Gerti arbeitet als Betonfahrer, »säuft wie ein Loch, raucht jeden Tag drei Päckchen ohne Filter« — und ist kerngesund. »Der ist einfach nicht totzukriegen«, stöhnt Hans und schiebt ein paar Fritten nach.
»Das wird schon noch«, tröste ich ihn. Gemeinsam schlendern wir zum Urban-Krankenhaus zurück und tauschen in der Kantine unsere Erfahrungen mit Operationen aus. Bauch und Kopf ist ganz schlimm, Arme geht so. Beinoperationen sind die reinste Erholung. Nach zwei Stunden brauchen wir eine Seelenmassage und besuchen Hans' Kumpel auf der »Inneren«. Matti geht es nach einer Magenoperation ziemlich dreckig. Ein Häuflein Elend unter einem weißen Laken. Er ist nicht besonders gesprächig, außer einem knappen »Ja« oder »Nee« atmet er nur schwer. »Kopf hoch!« grinst Hans und schwenkt seine Ampulle.
»Wir gehen noch schnell eine rauchen«, entschuldigt er sich bei Matti und schiebt mich auf den Flur. Matti schaut uns traurig nach. Natürlich würde er auch gerne eine rauchen, aber der Magen... Auf dem Heimweg bekomme ich Frühlingslaune. Na bitte, geht doch. Werner
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