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■ Weltuntergang auf dem Kiewer Sophienplatz ist geplatztWeiße Brüder hungern immer noch

Warschau/Kiew (taz) – „Der Weltuntergang ist offenbar ausgeblieben“, teilte ein erleichterter Sprecher des Kiewer Innenministeriums den versammelten Journalisten am Mittwoch abend mit. Den ganzen Tag hatten sich Journalisten und Polizisten auf dem Kiewer Sophienplatz die Füße in den Bauch gestanden und auf die Anhänger der Sekte „Große Weiße Bruderschaft“ gewartet. Deren Chefs, das Ehepaar Maria Zwygun und Jurij Kriwonogyj, hatten für den 24. November das Ende der Welt angekündigt und ihre Anhänger zum kollektiven Selbstmord aufgerufen (die Wahrheit berichtete). Doch durch zahlreiche Verhaftungen waren die Reihen der Sekte dermaßen gelichtet, daß Journalisten und Polizisten quasi unter sich blieben.

In den Wochen vor dem letzten Feiertag der „Weißen Brüder“, bei dem nach Ausschreitungen mehrere hundert Sektenanhänger aus nahezu allen GUS-Staaten und eine Tonne Propagandamaterial von der Polizei einkassiert worden waren, hatte es immer wieder Zusammenstöße zwischen Polizei und Sekte gegeben. Dabei hatten die Sektierer schließlich sogar die berühmte Sophienkathedrale demoliert. Im Lauf der gigantischen Prügelei war es der Polizei gelungen, den mit internationalem Haftbefehl gesuchten Jurij Kriwonogyj und seine Frau festzunehmen. Ukrainische Zeitungen berichteten, Kriwonogyj sei früher bei der Sowjetarmee Spezialist für psychologische Kriegsführung gewesen und verfüge über außergewöhnliche hypnotische Fähigkeiten. Tatsächlich waren viele seiner festgenommenen Jünger nicht ansprechbar, machten einen abwesenden, entrückten Eindruck und traten häufig im Polizeigewahrsam in sofortigen Hungerstreik. Von insgesamt 800 Festgenommenen hungerten am 17. November noch 242, 200 wurden hospitalisiert, 28 waren bereits so ausgehungert, daß sie in die Intensivstationen eingeliefert wurden. Die Erleichterung des Innenministeriums über den ausgebliebenen Massenselbstmord könnte sich durchaus als verfrüht erweisen – denn wenn der hypnotische Einfluß Kriwonogyjs ausreicht, dann könnte das den entschlosseneren Teil seiner Jünger in den unvermeidlichen Hungertod treiben.

Die ukrainische Antisekteninitiative „Porjatunok“ (zu deutsch: Rettung) hat den Behörden inzwischen vorgeworfen, auf die Invasion der Weißen Brüder völlig unvorbereitet zu sein. Porjatunok- Chefin Tamara Ustinowa forderte inzwischen, ein Rehabilitationszentrum in einem der Kiewer Sanatorien zur Nachbehandlung der Sektenopfer einzurichten. Auf einer Pressekonferenz von Projatunok traten Psychologen und Bioenergie-Fachleute für ein Verbot bioenergetischer Beeinflussung auf größere Menschenmengen ein. Das Jugendministerium will nun einen entsprechenden Gesetzentwurf im Parlament einbringen.

Obwohl die Anführer der Sekte inzwischen hinter Gittern auf ihren Prozeß wegen Anstiftung zur Selbsttötung warten, kommen die Behörden nicht so recht zur Ruhe. Schon am 18. November informierte ein anonymer Anrufer die Polizei von in drei Kiewer Schulen angebrachten Bomben, die sich allerdings als Mystifikation erwiesen. Manche Kommentatoren in Kiew sehen in der ganzen Aufregung um die Weißen Brüder inzwischen einen riesengroßen Bluff- Versuch der Behörden, mit dem Ziel, von der Wirtschaftskrise abzulenken. Andere wiederum halten die Sekte für einen russischen Versuch, die Ukraine zu destabilisieren. Gerüchte, wonach Weiße Brüder inzwischen auch im nordwestpolnischen Lebork aufgetaucht sein sollen, haben sich bisher nicht eindeutig bestätigt. Klaus Bachmann

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