: Welt voller Krempel
Schöne Monster passen nicht mehr in diese postkoloniale Zeit:neue indo-westliche Romane von Salman Rushdie und Kiran Desai
VON SUSANNE MESSMER
Es war einmal, da schienen Monster menschlicher als Menschen zu sein. Sie schlugen zurück, fraßen ihre Schöpfer und sie hatten damit alle Sympathie auf ihrer Seite. Von Frankenstein bis zu Sufiya Zenobia aus Salman Rushdies Roman „Scham und Schande“: Diese hybriden Produkte der Macht repräsentierten die künstlichen Linien auf der Landkarte, die von den Vertretern der Wissenschaft, des Fortschritts, von den Kolonialherren gezogen worden waren. In ihnen kehrte sich die Entfremdung um. Ihre Fragmentierung wurde zur utopischen Kraft.
Liest man neue Bücher postkolonialistischer indoenglischer Vorzeigeautoren wie die von Salman Rushdie oder Kiran Desai, gewinnt man den Eindruck: Diese Zeiten der Hoffnung spendenden Monster ist vorbei. Die Monster der postkolonialistischen Literatur sind nicht mehr gefährlich, sie sind blass geworden. Man wird den Verdacht nicht los, als wäre die Weltlage zu verzwackt für sie geworden. Als könnte man ihnen kein Recht mehr zum Handeln einräumen.
Beide Bücher, „Shalimar der Narr“ von Salman Rushdie wie „Erbin des verlorenen Landes“ von Kiran Desai, sind als Kommentare zum 11. September lesbar, in beiden Büchern geht es um die Entstehung von Fundamentalismus und Terrorismus. Während Kiran Desai ihr Buch vor dem Hintergrund des Ghurka-Aufstandes der nepalesischen Minderheit in Nordindien Mitte der Achtzigerjahre spielen lässt, hat sich Salman Rushdie diesmal den Kaschmirkonflikt ausgesucht. Er erzählt die Geschichte eines gehörnten Ehemanns, der zum Gotteskrieger wird, um seinen persönlichen Rachefeldzug anzutreten.
Der Roman beginnt in Los Angeles im Jahr 1991. Vor der Haustür seiner Tochter wird der Diplomat Max Ophuls aufs Brutalste von seinem muslimischen Chauffeur ermordet, von Shalimar dem Narren. In den folgenden Kapiteln fliegen die Erzählstränge auseinander. Salman Rushdie erzählt gewohnt weitschweifig vom Widerstandskämpfer für die Résistance Max Ophuls, von der Nachkriegszeit, seiner Abberufung nach Indien. In einem prunkvollen orientalischen Erzählteppich wird von einem Dorf in Kaschmir erzählt, einem Paradies, das zunächst noch keine Probleme zwischen Hindus und Muslimen kennt und in dem sich der muslimische Shalimar und die schöne hinduistische Tänzerin Boony verlieben. Hundert brillante Arabesken und Abschweifungen weiter erfahren wir, wie sich auch Max Ophuls in besagte Boony verliebt und wie er sie ihm wegnimmt, seinem späteren Mörder.
Man kann an Salman Rushdies Buch viel bemängeln. Man kann seinem Wehklagen und seinem Pathos vorwerfen, er lasse dem Leser keine Möglichkeit, sich die eigene Sicht zu suchen. Man kann ihm ankreiden, er sei in der Beschreibung des Paradieses, dieses Landes der Tempel und der unberührten Natur, zu weit gegangen. Er habe sein symbolisches, fiktives Land, das er sich, wie er sagt, aus Gründen der Dezentrierung zugelegt hat, zum Klischee verkommen lassen. Vor allem aber kann man ihn rügen: Shalimar der Narr, die interessanteste Figur, die es abzutasten wert gewesen wäre, bleibt undurchdringlich.
So sind es etwa nicht die Verhältnisse, die aus ihm machen, was er ist. Vielmehr fürchtete sich schon seine kluge Mutter vor ihm, als sie ihn noch nicht geboren hat. Schon als er 14 ist, droht er seiner Boony, sie, ihren Mann und ihre Kinder umzubringen, sollte sie ihn je verlassen. Er, der das Seiltanzen gelernt hat und die Leute zum Lachen zu bringen, steckt von Anfang an voller Hass.
Shalimar wird zuerst Kämpfer für die kaschmirische Unabhängigkeit und schließt sich dann den eisernen Mullahs an. Es sind amerikanische Waffen für die Taliban, die auch in seine Hände gelangen und mit denen er sich immer weiter an Max Ophuls herankämpft. Und doch bleibt der Hass, der ihn umtreibt, auf seltsame Weise verschwommen. All die Haken und Schnörkel, die vielen hundert Geschichten, die Rushdie um ihn webt, wirken wie ein lockerer Text, der seinen Gegenstand nicht einkreisen, sondern dessen Prägnanz bewahren will. Es gibt keine große Erzählung, keine finalen Erklärungen für den Terror. Doch der Vorwurf der mangelnden Verdichtung, der Salman Rushdie für seinen Roman gemacht wurde, fasst nicht.
Ebenso wenig, wie sich der Terror erklären lässt, lässt er sich poetisieren. Fünf Jahre nach dem 11. September 2001 ist es Salman Rushdie nicht mehr möglich, Shalimar den Narren als faszinierendes Monster zu zeichnen. Man darf sich nicht mehr daran ergötzen, dass zurückgeschlagen wird. Shalimar kann sich nicht an ihnen messen, an den Männerfresserinnen und den seltsamen Wesen mit herkulinischer Kraft aus Salman Rushdies früheren Bücher. Stattdessen verabschiedet sich des Autors Liebe für das Hybride in den eisernen Mullahs, die sich in einer kurzen, ironischen Anspielung an die Figur des Cyborgs aus dem Schrott des indischen Militärs formen, „aus defekten Auspuffanlagen und Waffen mit Ladehemmung“.
Ist das Monster bei Salman Rushdie blutarm und kann von ihm kein Optimismus mehr ausgehen, so gestaltet es sich bei der eine Generation jüngeren Kiran Desai, der Tochter der bekannten Autorin Anita Desai, als melancholisches, das noch nie Einfluss hatte auf die Welt. Es sind die „selbstgerechten, gebildeten Englischsprecher“, wie sie der Sohn des Koches der Familie einmal selbst nennt, die monströse Züge annehmen – und nicht die potenziellen Terroristen.
Berichtet wird von einem Teenagermädchen, einer Waise namens Sai, die mit ihrem Großvater lebt, einem Richter in Rente, in der Stadt Kalimpong auf der indischen Seite des Himalajas. Sai verliebt sich in Gyan, ihren Mathelehrer, einem zukünftigen nepalesischen Ghurkha-Soldaten. In einer Parallelerzählung wird das Leben von Biju gezeigt, dem Sohn des Koches, der sein Glück als illegaler Immigrant in New York versucht. Auch wenn all diese Figuren unter dem Gefälle zwischen Reich und Arm, Ost und West leiden: Zerbrochen an ihnen ist einzig der Großvater. Seine Geschichte ist eine der Verhärtung. Als er in England studierte, setzte sich im Bus niemand neben ihn, weil alle fanden, er stinke nach Curry. „Bald mochte er gar nichts mehr von sich aus seiner Kleidung hervorschauen lassen. Er fing an sich zwanghaft zu waschen.“
Kiran Desai ist voller Skepsis gegenüber dem Multikulturalismus des Westens – weit entfernt vom zuversichtlichen Beschreibungen des postkolonialen Subjekts, wie es Salman Rushdie propagiert hat und jetzt nicht mehr zu beschreiben vermag. Kiran Desias Globalität ist schäbig. Ihre Figuren vermodern entweder in der alten Welt oder verzweifeln unter dem Himmel über Manhattan, der „schmutzig ist und voller Krempel“.
Und was ist mit dem, der vielleicht vor dem 11. September 2001 noch als veritables Monster beschrieben worden wäre? Auch von Gyan, dem Mathelehrer, darf natürlich keine Hoffnung und auch kein anderweitiger Glamour mehr ausgehen. Er singt mit den demonstrierenden Ghurkas, aber das Gefühl von Wichtigkeit und Bedeutung, das er genießt, hält nicht lange an. Eine würdevollere Arbeit als die, die er hat, werden ihm die Ghurkas auch nicht beschaffen. Ein monströser Racheengel kann aus ihm ebenso wenig werden wie aus Shalimar, dem Narren.
Salman Rushdie: „Shalimar der Narr“. Aus dem Englischen von Bernhard Robben. Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg 2006, 543 S., 22,90 EuroKiran Desai: „Erbin des verlorenen Landes“. Deutsch von Robin Detje. Berlin Verlag, Berlin 2006, 429 S., 19,90 Euro