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Weibliche Erwerbslosigkeit ist anders

■ Bewerbungstraining für bereits oder noch nicht Erwerbslose in Mahrzahn / Die meißten der rund 100 Teilnehmer sind Frauen / Der Dank für vierzigjährige Plackerei in der Kommandowirtschaft

Von Astrid Luthard

„Bevorzugen Sie es, die Treppen schnell oder langsam zu steigen“, so lautet eine von 245 Fragen, die der Trainer den Seminarteilnehmern schriftlich vorlegt. Unsicheres, verschämtes und offenes Lachen im Jugendklub der Ostberliner Satellitenstadt Marzahn. Nicht Fitneß- oder Kreislauftraining ist an diesem schwülen Augusttag angesagt, sondern „Bewerbungstraining“ für schon oder noch nicht Erwerbslose. Es ist für viele Hoffnungsvolle die Station vor oder nach dem Arbeitsamt. Auffällig, daß die meisten der rund 100 Teilnehmer Frauen sind, auch daß sie am meisten nachfragen und es ganz genau wissen wollen, wie sich ihre Chancen auf dem freien Arbeitsmarkt in Zukunft darstellen. Organisiert hat dieses Seminar der Arbeitslosenverband der DDR und ausgerüstet ist es selbstverständlich mit Wissen und Material aus dem Westen. Längst ist es Alltag in der sich auflösenden DDR, daß Frauen zuerst gefeuert werden und ihnen Selbstverwirklichung in Heim und am Herd versprochen werden. Als Dank für vierzigjährige Plackerei in der administrativsten aller Kommandowirtschaften.

Manch alter Leiter sieht nun endlich seine Stunde gekommen! „Frauen mit Kindern zuerst“, lautet das neue Kommando. Kein Rettungsboot vorhanden? na, wenn schon. Endlich könnt Ihr mal schwimmen lernen im stürmischen Meer der deutschen Wirtschafts-, Währungs- und Sozialeinheit. Die weibliche Erwerbslosigkeit ist anders, oft dauerhafter und aussichtsloser.

Diese Erfahrung scheint vielen DDR-Frauen noch bevorzustehen. „Ick mach mir keen‘ Kopp“, meint selbstbewußt die 21jährige Janine, gelernte Industriekauffrau und seit drei Wochen ohne Arbeitsplatz. Da ist noch viel von der alten DDR-Sorglosigkeit und das Gefühl, irgendjemand wird gerade sie brauchen. Warum auch nicht, sie ist jung, attraktiv und Kinder will sie erstmal nicht, sondern einen kleinen Golf. Irgendwo im Westen jobben, wenn sich hier nichts findet, was sie sich jedoch nicht vorstellen kann.

Fast alle jungen Frauen sind sicher, daß ihre Erwerbslosigkeit eine Vorübergehende ist und für die Verheirateten hat in diesen harten Zeiten eben der Mann zu sorgen. Schon sinken die DDR-Rekordzahlen der meist von Frauen eingereichten Ehescheidungen.

Gerade aus dem Urlaub zurück, gebräunt von iberischer Sonne, ist die Diätfachverkäuferin Ute, verheiratet, zwei Kinder. Im Briefkasten fand sie neue Urlaubsangebote und ihre Kündigung. „Das laß ick mir nich bieten, ick jeh vors Arbeitsgericht“, und sie sieht wirklich so aus, als ob sie sich nichts gefallen lassen würde. Eine Mischung aus aggressiver Kampfansage und sich-Abfinden bestimmt das Auftreten der meisten schon freigesetzten weiblichen Werktätigen.

Viele junge Frauen kommen zu solchen Veranstaltungen, obwohl sie noch nicht betroffen sind, quasi prophylaktisch. Weiblicher Realismus!

Die in die DDR eingeheiratete Sowjetbürgerin Swetlana ist betroffen. Als Dolmetscherin von ihrem Außenhandelsbetrieb gefeuert; auch ihr deutscher Mann, Diplomingenieur, ist seit einem Monat ohne Arbeit. Sie hat Angst, nicht nur wegen der materiellen Einschränkungen in dem Fünf-Personen-Haushalt, auch vor dem Fremdenhaß, der sie trifft, obwohl sie nicht schwarz ist und nicht aus Asien kommt, sondern aus Leningrad. Zurück in die Heimat? Undenkbar; Brot gibt es dort inzwischen auf Marken und eine Wohnung zu erhalten ist aussichtslos. Nein, sie will bleiben, es muß ja irgendwann besser werden, denn schließlich ist hier Deutschland...

Das Arbeitsamt in Marzahn ist schon am frühen Morgen überfüllt, vermittelt wird kaum noch, nur noch aufgenommen wird in die immer länger werdende Kartei Arbeitssuchender. Die Gesicher der Männer erscheinen teilnahmslos und verschlossen. Die Frauen reden miteinander, geben bereitwillig Interviews und scheinen für alle Arten von Veränderungen bereit. Umschulungen, Umziehen... Eben eine Zeit der Umbrüche.

93 Prozent der Frauen in der DDR waren berufstätig, viele davon hochqualifiziert. Wen interessiert das heute noch? Sie bezahlen die deutsche Einheit mit der Rückkehr in traditionelle Frauenrollen und schon vergessener ökonomischer Abhängigkeit.

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