Wehrmachtslegende in Serbien: "Sie wollen die Geschichte glauben"
In Serbien wird ein Wehrmachtssoldat als Held gefeiert, der im Zweiten Weltkrieg einen Schießbefehl verweigert haben soll. Die Geschichte stimmt nicht, wie Buchautor Martens herausfand.
taz: Herr Martens, in Serbien gilt der Wehrmachtsgefreite Josef Schulz als Held. Warum ist der Soldat, der nicht töten wollte, in Deutschland quasi unbekannt?
Michael Martens: Der Balkan ist in der Erinnerung der Deutschen an den Zweiten Weltkrieg ein Nebenkriegsschauplatz. Sie interessieren sich für Frankreich und Italien, weil sie dorthin in Urlaub fahren. Und für Russland, weil ihre Großväter dort waren. Das Massaker im französischen Oradour-sur-Glane ist vielen bekannt - aber mit Kragujevac in Serbien kann kaum jemand etwas anfangen, obwohl dort 2.800 Zivilisten ermordet wurden. In Serbien und in ganz Exjugoslawien war der Krieg dagegen der große Kampf gegen das mächtige Deutschland, der gewonnen wurde. Daher ist die Erinnerung so ungleich verteilt.
Wann haben Sie das erste Mal von Schulz gehört?
Nach einem Lokaltermin in Kragujevac wurde ich gefragt, ob ich das Denkmal für Schulz sehen wolle. Ich fragte: Ein Denkmal für einen deutschen Soldaten? Hier? Ich glaubte, einer historischen Sensation auf die Spur gekommen zu sein. Dass die Galerie des Widerstandes gegen Hitler erweitert werden müsse.
geboren 1973 in Hamburg, berichtete von 2002 bis 2009 für die Frankfurter Allgemeine Zeitung aus Belgrad. Heute ist er FAZ-Korrespondent in Istanbul. Sein Buch "Heldensuche. Die Geschichte vom Soldaten, der nicht töten wollte" (400 Seiten, 24,90 Euro) erschien am Montag im Paul Zsolnay Verlag.
Wie ist der Mythos vom Soldaten, der nicht töten wollte, entstanden?
Als mir klar wurde, dass die Geschichte sich nicht so ereignet haben konnte, wie sie mir geschildert worden ist, dachte ich, sie sei erfunden worden, um zur Verbesserung der deutsch-jugoslawischen Beziehungen beizutragen. Aber dieser verschwörungstheoretische Ansatz war falsch. Es gab eben keinen Regisseur, da haben viele verschiedenen Faktoren zusammengewirkt.
Sind diese Unstimmigkeiten, auf die Sie beim Recherchieren gestoßen sind, denn vorher niemandem aufgefallen?
Doch, das Militärgeschichtliche Forschungsamt in Freiburg etwa hat den Mythos Schulz schon in den siebziger Jahren widerlegt. Dort erfuhr ich, dass die Todesmeldung des Gefreiten schon in der Nacht vor dem Tag eingegangen war, an dem er angeblich erschossen wurde. Aber das hat der Lebensfähigkeit des Mythos nichts anhaben können.
Und wer hat warum an der Legende mitgewirkt?
Das Wichtigste ist, dass viele Menschen an die Geschichte glauben wollten. Sie ist ja auch - in all ihrer Schrecklichkeit - ermutigender als die Wahrheit. Das war praktisch für die Politik. Nach 1945 gab es - von deutscher wie jugoslawischer Seite - einen starken Willen, sich wieder anzunähern. Wenn es Schulz nicht gegeben hätte, man hätte ihn erfinden müssen. Und das ist ja auch passiert. Konkret waren jugoslawische und deutsche Journalisten, Diplomaten, ein Bundestagsabgeordneter und ein Kanzleramtschef daran beteiligt - und Bewohner der Gegend, in der sich der Fall vermeintlich ereignet hat und die als Zeugen für etwas auftraten, das sich nie ereignet hat. Und das aus ganz unterschiedlichen Gründen.
Und die wären?
Bei den Journalisten geht es vor allem um ein sehr liberales Verhältnis zu den Tatsachen. Und schlechte Recherche. In Deutschland etwa wurde der Fall 1961 in der damals populären Neuen Illustrierten publiziert. Die Fotos zeigen eine Erschießung, auf denen ein Wehrmachtssoldat etwas näher bei den zu Exekutierenden steht als seine Kameraden. Daraus wurde gefolgert, es handele sich um Schulz, der auf die Todeskandidaten zugeht, um mit ihnen zu sterben. Der Autor des Textes hat die Szene so beschrieben, als sei er selbst dabei gewesen.
Und was passierte dann?
Dieser Artikel fiel dem damaligen Leiter der Zentralen Stelle zur Verfolgung von NS-Verbrechen in Ludwigsburg in die Hände. Der konnte sich wohl nicht vorstellen, dass Journalisten so arbeiten - und löste eine der größten Fahndungsaktionen in der Geschichte der Bundesrepublik aus. Dabei ging es nicht um Schulz, sondern um den Befehlshaber des Erschießungskommandos. Der hätte nach Wehrmachts-Strafrecht niemals einen Befehlsverweigerer zum Tode verurteilen dürfen. Wäre das doch geschehen, dann hätte das die Existenz des sogenannten Befehlsnotstands bewiesen - also dass Befehlsverweigerung mit der Todesstrafe geahndet wurde. Darauf beriefen sich viele als Kriegsverbrecher angeklagte ehemalige Soldaten.
Dass sich Deutsche nach 1945 nach "guten Deutschen" sehnten, ist verständlich. Aber warum gab es diese Sehnsucht auch bei den Siegermächten, zu denen auch Jugoslawien gehörte?
Schreckliche Ereignissen sind besser zu verarbeiten, wenn es Ausnahmen gibt. Und Millionen Holocaust-Tote sind sind schwerer fassbar als Primo Levi oder Anne Frank. In Serbien war der Mythos Schulz ein Teil der Verarbeitung der deutschen Besatzungszeit.
Beim Schreiben von "Heldensuche" sind Sie auf eine aktuelle Legenden-Macherin gestoßen: Daniela Matijevic, eine Exsoldatin der Bundeswehr, die ein Buch über ihre Zeit im Kosovo geschrieben hat, in dem nichts stimmt. Trotzdem geistert sie durch die Medien. Sind Mythen mächtiger als die Wahrheit?
In vielen Redaktionen verhindert Zeitdruck seriöses Recherchieren. Im Talkshow-Bereich, wo Frau Matijevic vor allem auftaucht, ist das besonders schlimm. Es werden Leute ungeprüft ins Programm genommen, wenn ihre Geschichte ins Konzept passt - und das heißt Unterhaltung. Und Matijevic hat Unterhaltungswert, nicht obwohl, sondern gerade weil sie sehr ernste Dinge behauptet. Wer weiß, wie viele solcher Geschichten durch die Medien geistern? Ich habe die vom Helden Schulz ja auch lange für wahr gehalten - bis ich so tief eingestiegen war, dass mir klar wurde, dass ich es mit einem Mythos zu tun habe. Insofern hoffe ich, dass Leute, die mein Buch gelesen haben, in Zukunft alle Geschichten mit einer gewissen Skepsis behandeln.
Wie lange haben Sie - neben Ihrer Arbeit als Korrespondent - an "Heldensuche" gearbeitet?
An dem Fall herumgepuzzelt habe ich viereinhalb Jahre. Aber so kann man das nicht rechnen. Am Anfang dachte ich ja, das sei eine tolle Reportage. Erst als ich begriff, dass das eine paradigmatische Geschichte ist, weil sie uns erzählt, wie Legenden entstehen, habe ich mit der intensiven Arbeit begonnen. Diese Phase dauerte zwei Jahre.
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