Wehe, wenn die Nase läuft

BÜROKRATIE Ab Januar gelten deutlich strengere Hygienevorschriften für Tagesmütter. Ausgerechnet im bunten Bezirk Friedrichshain-Kreuzberg trifft es sie besonders hart

„Der Privathaushalt von Tagespflegepersonen ist eine öffentliche Angelegenheit“

I. MIDDEL-ERDMANN, LEBENSMITTEL- AUFSICHT FRIEDRICHSHAIN-KREUZBERG

Sie sind verunsichert, ja. Aber verrückt machen lassen sich Angelika Jäger und Christine Albeck nicht. Wie für alle Berliner Tagesmütter und -väter gelten ab dem 1. Januar für die beiden Kreuzbergerinnen strengere Hygienevorschriften im Lebensmittelbereich. Hintergrund ist eine EU-Verordnung, die Berlin als zweites Bundesland nach Sachsen umsetzen wird. Aus der vorbereitenden Schulung ihres Bezirks haben sich für Albeck und Jäger leider mehr Fragen als Antworten ergeben. „Zum Beispiel, wie ich meinem sozialen Auftrag liebevoller Kindesbetreuung noch nachkommen soll, wenn ich dauernd putzen muss“, sagt Albeck. Im Namen aller Kreuzberger Tagesmütter haben die beiden Frauen einen offenen Brief an das Jugendamt geschrieben.

Damit wollen die beiden Tagesmütter, die jeweils vier Kleinkinder in ihren Privatwohnungen betreuen, ihrem Bezirk signalisieren, dass sie sich nicht alles gefallen lassen. Denn die Bezirksverwaltung Friedrichshain-Kreuzberg nimmt es mit der EU-Verordnung 178/2002 ziemlich genau – genauer als die meisten anderen Bezirke. Sie legt das Senatsmerkblatt sehr eng aus, das für die Tagespflegepersonen strikte Regeln zur Lebensmittelhygiene vorsieht. Weil die Betreuenden auch Nahrung an ihre Schützlinge ausgeben, haben sie ab Januar offiziell den Status von Lebensmittelunternehmen. Verschärfte Hygieneregeln für Küchenräume, Einkaufsprotokolle und Putzpläne, die von der bezirklichen Lebensmittelaufsicht kontrolliert werden, inklusive.

Fremde Kinder im Haus

„Sie haben uns gesagt, dass wir kein Grundrecht mehr auf die Unverletzbarkeit unserer Wohnung haben“, sagt Tagesmutter Christine Albeck und schüttelt dabei den Kopf. „Dabei ist es doch der Grundgedanke der Tagespflege, dass die Kinder in einem geschützten Privatraum in familiärer Umgebung aufwachsen.“ Das sieht Ingrid Middel-Erdmann, die Leiterin des zuständigen Veterinär- und Lebensmittelaufsichtsamts Friedrichshain-Kreuzberg, anders. Sie findet unangekündigte Kontrollen selbstverständlich: „Die Frauen und Männer haben sich selbst entschlossen, sich fremde Kinder ins Haus zu holen – damit ist ihr Privathaushalt nach der EU-Verordnung eine öffentliche Angelegenheit.“ Doch diese Auffassung unterscheidet sich grundlegend von der einiger ihrer Kollegen: „Wir können doch nicht in die privaten Kühlschränke von Frauen schauen, die Kinder zu Hause betreuen. Was wäre das für ein Eingriff?“, fragt etwa Gunhild Maaß von der Steglitz-Zehlendorfer Lebensmittelaufsicht. „Das käme nur bei einer Elternbeschwerde infrage, und wenn die vorliegt, handeln wir auch jetzt schon umgehend.“

Weil das Amt des zuständigen Bezirksstadtrats zeitweise nicht besetzt war, haben sich Lebensmittelaufsichtsamt und Jugendamt in Steglitz-Zehlendorf eigenständig auf ein Vorgehen geeinigt: Nur sogenannte Verbundpflegestellen ab einer Gruppengröße von sechs Kindern sollen überprüft werden, sie machen in dem Bezirk knapp 10 Prozent der 160 Tagesmütter aus. Und auch für sie hat Maaß viele der Regelungen kassiert. Die jetzige Bezirksstadträtin äußerte sich trotz mehrfacher Anfrage nicht dazu, ob es bei diesen Einschränkungen bleiben wird. In früheren Presseberichten hatte sie dem aber auch nicht widersprochen.

Die Unterschiede zwischen den Bezirken sind fragwürdig – rechtlich problematisch sind sie nicht. Die Verordnung, die EU-weit seit 2002 existiert, wurde 2009 vom Bundesministerium für Verbraucherschutz an die Länder verwiesen, Senat und Bezirke haben seitdem an einem Konzept zur Umsetzung gearbeitet. Was konkret die bezirklichen Kontrolleure letztlich fordern, liegt laut Senatsbildungsverwaltung in deren Ermessen. „Es steht den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der Lebensmittelaufsichtsämter frei, zu entscheiden, zu welchem Zeitpunkt welche Tagespflegestelle in welchem Umfang und zu welchen Aspekten kontrolliert wird“, schreibt ein Sprecher auf taz-Anfrage.

Weil die Verantwortlichen in vielen Bezirken noch nie von Problemen in der Tagespflege erfahren haben, nutzen sie diese Spielräume: In Lichtenberg etwa gibt es nur Kontrollen, wenn eine Beschwerde vorliegt. Das Bezirksamt Charlottenburg-Wilmersdorf fängt dagegen im ersten Quartal wegen Personalmangels erst einmal bei den Pflegestellen mit mehr als fünf Kindern an.

„Wir wollen die Tagesmütter nicht gängeln“, sagt Monika Herrmann, Stadträtin für Familie und Gesundheit in Friedrichshain-Kreuzberg. „Aber es gibt Vorschriften, die eingehalten werden müssen, sonst können die Eltern das im Zweifel auch einklagen.“ Von Januar bis März soll deshalb alle 65 Tagespflegestellen kontrolliert werden.

„Bei uns ist noch nie ein Kind krank geworden“, protestieren Christine Albeck und Angelika Jäger, die seit acht beziehungsweise zwölf Jahren als Tagesmütter arbeiten. Jetzt sehen sie sich massiven Anforderungen ausgesetzt: Küchenboden und Wandfliesen müssen täglich desinfiziert und gereinigt werden, Etiketten bestimmter Lebensmittel müssen über sechs Monate aufbewahrt werden, vor den Fenstern müssen Insektengitter angebracht werden, außerdem müssen zusätzliche Spülbecken eingerichtet werden. Daraus ergeben sich für die Frauen gleich mehrere Fragen: In der Schulung sei ihnen das Gefühl gegeben worden, alle nicht sterilen Fremdkörper seien aus der Küche fernzuhalten. „Also auch ein Kind, dem mal die Nase läuft, oder wie?“, fragt Albeck sarkastisch. Jäger, die nach der Verordnung ihre komplette Holzarbeitsplatte austauschen müsste, fügt hinzu: „Und wer übernimmt die Kosten für die Umbauten?“

Ein ganz normaler Vorgang

Die beiden fragen sich, womit sie die Maßnahmen provoziert haben. Die Bildungsverwaltung betont auf Anfrage, die Umsetzung der Verordnung sei ein normaler Vorgang. Doch in einem Schreiben an die Bezirksämter war laut Gunhild Maaß von der Steglitz-Zehlendorfer Lebensmittelaufsicht auch von einem „Spannungsfeld zwischen Lebensmittelhygiene und Kindertagespflege“ die Rede, das die Jugendstadträte bemängelt hatten.

Für Tagesmutter Bettina Kettmann bleibt das ein Rätsel: Sie sieht in den neuen Regelungen ein ganz anderes Spannungsfeld: „Um das alles zu dokumentieren, muss ich meine Mittagspause opfern“, sagt die gelernte Krankenpflegerin, die momentan zwei kleine Mädchen und einen Jungen zu Hause betreut. Von der Spielzeit mit den Kindern will sie nichts abknapsen.

Weil die ganze Thematik sie extrem verunsichert hat, wird Kettmann alles wie vorgesehen protokollieren – obwohl ihr in ihrem Bezirk Steglitz-Zehlendorf nach aktuellem Stand keine Kontrolle droht. Sie befürchtet, dass ihr Bezirk auf Druck von oben doch noch einknicken könnte. „Aber am sinnvollsten wäre es für alle Beteiligten, wenn die bisher streng vorgehenden Bezirke ihre Regelungen der Realität anpassen“, sagt die 43-Jährige mit Blick auf ihre KollegInnen in anderen Bezirken. Darauf hoffen auch Christine Albeck und Angelika Jäger. Solange ihre Fragen nicht „ernsthaft beantwortet“ werden, wollen sie an ihrer Arbeitsweise vorerst nichts ändern.