: Weg vom Bleistiftstadium
Mirko Bonnés Gedichte „Wege durch die Spiegel“: poetisierende Blicke auf Hälfte eins der 2020er
Von Konstantin Ames
Die Lyrikszene in Deutschland ist innerhalb nur eines Jahrzehnts weitgehend brav geworden. Deutlich wird das in fast jedem „Jahrbuch der Lyrik“ und am deutlichsten in den Nachworten, die von Mitgliedern des Diplomatischen Corps geschrieben sein könnten. Doch es gibt Ausnahmen: „Ehrlich, sagt mir in einem Gespräch einer, Rilke habe nichts zu sagen über (oder zu!) Menschen von heute, mit dem mag ich nicht länger reden“, entgegnet Mirko Bonné Christoph Buchwald, weiland (2019) ständiger Herausgeber dieser Lyrik-Anthologie, auf die Frage nach generationalen Eigenheiten, nach Traditionsbeständen und dem Wandel des Publikumsgeschmacks.
Von Mirko Bonné, dem um Verdikte nicht verlegenen Mitherausgeber, seit dreißig Jahren selbst geachteter Autor, übrigens auch von Romanen und Libretti, erscheint nun mit „Wege durch die Spiegel“ der siebte Gedichtband. Man kann einen ästhetisch völlig andern Standpunkt haben und sich doch schwertun damit, dem Sog dieser mäandernden Poesie zu entkommen. Er erreicht einen ersten Peak in den „Różewicz-Liedern“ und seine stärkste Intensität in den Kindheitsgedichten „Gegen den Uhrzeigersinn“ und „Schattenwürfe“: „Der Junge, der ich war und unverändert bin, / sah zu, wie einer starb, ich lernte leben und von Glas / und meiner Haut den Unterschied. Ich lernte machtlos sein“.
Einige wenige Volten wirken übertrieben, etwa wenn der späte Mörike und dessen Privatmythos „Orplid“ herangezogen werden, um Utopie nach innen zu verlagern. Mirko Bonné zählt jedoch auch zur winzigen Schar von Poeten, die beim Wort „Poetry Slam“ nicht reflexhaft die Augenbrauen hochziehen. Der weitgereiste Autor deutet mit lockerer Gestik an, keine der kurzfristigen Hypes der Szene für triftig halten zu müssen: „Du lebst, Rimbaud! / Ja, und falls nicht, / tun wir beide so“.
Das an Francis Ponge angelehnte „Eine Regennacht“ fragt: „Hat der Regen Beine, / Schulterblätter“? Der Rückblick aufs eigene Leben ist frei von Verklärung, die Mehrzahl der Gedichte im Band ist magisch-atmosphärische Skizze, entweder von Landschaften oder prägenden Personen im Lebenslauf, auch das von Rilke perfektionierte Dinggedicht kommt zu seinem Recht, etwa in der Rede auf einen „Glastisch“: „Er ist wie ein Fabeltier, das ausgerechnet / von deinem Leben alles mitangesehen hat“, etwa grausame Kindesmisshandlung oder das Zerbrechen einer Ehe.
Die den Buchtitel spendende Zeile spielt auf den Gedichtband „Wand im Spiegel“ des ikonischen und ideologisch vereinnahmten Jannis Ritsos an: „Alles war bewaffnet, Jannis, wie wir da / kampflustig so zur Kapelle hinanstiegen“. Relativ bald lässt sich die Suche nach einer Balance von Gravität, Klangvernarrtheit und einem emphatischen Sich-in-Kontexte-Versenken als Antrieb ausfindig machen.
Wer Gravität ohne weihevolles Kuddelmuddel sucht, findet es: „Schon verlässt das Gedicht das Bleistiftstadium“, heißt es im Poem „Nizza“. Zuerst mag es einen grausen, dass wer aufs Abendland setzt. Der zweite Blick zeigt jedoch, es geht Bonné um einen Ort heller Geschäftigkeit, um Wandel und Austausch, nicht um eine einzuzäunende kulturelle Hegemonie. In eleganten Loops variiert „Nizza“ schamanisch die Zeilen; der Anfang gleicht dem Ende: „Und sei er aus den verschwundenen Wäldern des Libanon / Kein Kletterer im Berg kennt den Berg, aber du / Bis die Wellenbrecher alles achtlos zertrümmern / Schon verlässt das Gedicht das Bleistiftstadium“.
Im Poem „L’envol“ notiert Bonné, dem Titel entsprechend schwungvoll: „Lass uns also bis zum Morgen trinken / erst Sternschnuppen, dann alle Sterne im / Sternbild Stier […] Sind Gryphius und / seine bald 400 Jahre alten Sternen [!] weniger da / weniger hier“? Mirko Bonnés „Wege durch die Spiegel“ ist fraglos der poetisierende Blick auf Hälfte eins der 2020er Jahre; von einem – hélas! – der wenigen unverkrampft frankophilen deutschen Dichter.
Mirko Bonné: „Wege durch die Spiegel“. Schöffling, Frankfurt a. M. 2025, 92 Seiten, 22 Euro
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