: Weg in die Marktwirtschaft vertagt
■ Oberster Sowjet beschlußunfähig/ Gorbatschow will Sondervollmachten/ Ryschkow bleibt zunächst
Moskau (dpa/adn) — Die Beschlußunfähigkeit des sowjetischen Parlaments verhinderte gestern eine mögliche Entscheidung über den Weg der UdSSR in die Marktwirtschaft. Für eine Abstimmung sind 361 Abgeordnete erforderlich; eine Zählung hatte jedoch nur die Anwesenheit von 330 Parlamentariern ergeben. „Das ist kein Zufall, dahinter steckt Absicht“, meinte Parlamentspräsident Anatoli Lukjanow. Auch über weitere Sondervollmachten für den Präsidenten konnte nicht entschieden werden.
Gorbatschow sprach sich vor den Abgeordneten für die Verschmelzung der Reformprogramme des Ökonomen Stanislaw Schatalin und des sowjetischen Ministerpräsidenten Nikolai Ryschkow aus. Ryschkow schlug vor, die vorliegenden Programme an Ausschüsse zu verweisen. Der Autor des vom russischen Parlament bereits verabschiedeten radikalen Plans der „500 Tage“, Stanislaw Schatalin, meinte, die Unterschiede zwischen seinem Programm und dem der Regierung seien „unüberbrückbar“. Die Deputierten müßten sich für die eine oder andere Version entscheiden. „Das Parlament hat die Wahl zwischen Leben und Tod, wir bieten das Leben“.
Die Vorsitzenden der Kommissionen und Komitees, die in den vergangenen Tagen die Programme diskutiert hatten, kritisierten am Schatalin-Konzept unter anderem das Fehlen sozialer Garantien beim Übergang in die Marktwirtschaft. Nach Ansicht des Abgeordneten Wladimir Walow lasse das Programm „die Eile, in der es verfaßt wurde“ erkennen.
Eine Regierungsumbildung zum gegenwärtigen Zeitpunkt lehnte Präsident Gorbatschow ab. Er riet den Abgeordneten, auf die „Idee eines Durchschüttelns des Machtsystems und der Leitung“ entschieden zu verzichten. Er sei nicht dagegen, weil er Präsident, und Ryschkow Premier sei, sondern weil an diesem verantwortungsvollen Wendepunkt nicht das ganze System des Landes durcheinandergeschüttelt werden dürfe. Das wäre ein Geschenk für jene, die bereit seien, das Land auszubeuten. Zugleich räumte Gorbatschow ein, daß die Lage in der Gesellschaft, die geplante Einführung der Marktwirtschaft und die Reform des Staates Korrekturen in den Machtmechanismen erforderlich machten. Das müsse jedoch im Rahmen der politischen Kultur und verantwortungsvoll geschehen.
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