: Wasserschlacht der Riesen
Im brodelnden Becken des Aquatic Centers behält das Wasserballteam von Bundestrainer Hagen Stamm den Kopf oben und schafft einen überraschenden 5:4-Sieg gegen Griechenland
AUS ATHEN FRANK KETTERER
Thomas Schertwitis ist knapp zwei Meter hoch, satte 119 Kilo schwer und wenn man sich sein Möbelpackerkreuz so anschaut, beschleicht einen unwillkürlich das Gefühl, dass es wohl besser ist, sich nicht mit diesem Bären von einem Mann anzulegen, wie leicht könnte es ins Auge gehen. Georgios Afroudakis blieb das nicht erspart. Auch er ist mit seinen stattlichen 1,94 Meter Körpergröße ein ziemlicher Hüne, und als die beiden, der große Afroudakis und der noch größere Schertwitis, am späten Sonntagabend im Wasserball-Becken des Olympic Aquatic Centers aufeinander trafen, gab es eine prächtige Wasserschlacht zwischen den beiden Riesen, die auf der Center-Position spielen, also dort, wo es am meisten aufs Bademützchen gibt. Die beiden produzierten entsprechend mächtig Wellen, das Wasser schien zu brodeln, Schertwitis und Afroudakis rangelten und schoben und zerrten mit- sowie gegeneinander, und als sie nach den vier Mal sieben Minuten wieder aus dem Becken stiegen, da hatten die deutschen Wasserballer ihr erstes Spiel in diesem Olympischen Turnier mit 5:4 gegen Gastgeber Griechenland gewonnen. Das kam einer ziemlichen Sensation gleich, wie am Beckenrand unschwer zu erkennen war: Da tanzte gleich eine ganze Horde wilder deutscher Bären vor Freude Ringelreihen – und aus der Ferne der Tribüne sah das ganz putzig aus.
Die Freude über diesen unerwarteten Sieg war jedenfalls groß bei den deutschen Wasserballern, und noch größer war die Enttäuschung bei den Griechen, die ja zu den besseren Mannschaften der Welt gehören und den Auftakt entsprechend als arges Desaster empfanden. In der rauen Welt des Wasserballs sind die Rollen nämlich ein wenig anders verteilt als beispielsweise im Fußball, wo die Deutschen ja als groß gelten und die Griechen als eher klein. Das soll jetzt nicht heißen, dass die Hünen des Deutschen Schwimm-Verbandes (DSV) hier nun plötzlich Olympiasieger werden können, davon sind sie noch ein gutes Stück entfernt. Und deshalb hat Hagen Stamm, der Bundestrainer, an die für Wasserballverhältnisse erstaunlich zahlreich erschienenen Reporter auch eine Bitte gerichtet: „Schreibt jetzt bloß nicht, dass Deutschland wieder Weltspitze ist.“
Also gut: Deutschland ist nicht Weltspitze, und auch die Spieler versuchen einem das in jedem zweiten Satz zu vermitteln. „Unser Ziel war es, eine Überraschung zu schaffen. Das ist uns gelungen“, sprach beispielsweise Michael Zellmer, der Ersatz-Torhüter. „Unser Ziel war es, nach Olympia zu kommen, alles andere ist ein Bonus. Das heute war ein sehr schöner Bonus“, fügte Marc Politze an. „Der Sieg bedeutet uns sehr viel – mehr nicht“, meinte wiederum Tim Wollthan. Und das alles fasste wiederum Bundestrainer Stamm zusammen, der mit stolzem Blick und krächzender Stimme feststellte: „Der Sieg ist eine Sensation. Es gibt hier mindestens neun Mannschaften, die realistisch gesehen besser sind als wir. Eine davon haben wir geschlagen.“
Natürlich ist das so, wenn Stamm das sagt, daran kann es nicht das geringste Zipfelchen an Zweifel geben. Schließlich ist der Berliner a) das, was Franz Beckenbauer im Fußball ist, nämlich eine Lichtgestalt. Und b) redet er im Gegensatz zum Kaiser weitaus weniger Blödsinn. Ansonsten sind die Parallelen wirklich auffällig: Auch Hagen Stamm war, damals in den 80er-Jahren, als Center einer der Weltbesten seines Fachs, wovon noch heute der Gewinn der Bronzemedaille bei den Spielen von 1984 in Los Angeles zeugt, die die letzte olympische der Deutschen ist. Und auch er wurde später Präsident des deutschen Rekordmeisters, der im Wasserball Spandau 04 heißt, und Bundestrainer. Als Hagen Stamm das Amt antrat, war das deutsche Wasserball ziemlich abgesoffen, für Sydney hatte sich die DSV-Equipe noch nicht einmal qualifiziert.
Stamm hat es herausgeholt, quasi aus der Tiefe des Drei-Meter-Beckens, ganz allmählich und durch sehr viel Arbeit. Die leistet er freilich nicht nur als Bundestrainer, sondern auch als Vereinspräsident. Spandau ist unter Hagen wieder zur Keimzelle des Wasserballs in Deutschland geworden. Kein anderer Bundesligaverein vermarktet sich besser, kein anderer bietet bessere und professionellere Trainingsbedingungen, kein anderer hat schon allein deshalb mehr Nationalspieler in seinen Reihen, gleich sieben der 13 Spieler aus dem Olympiakader wasserballern bei Spandau. Mag sein, dass andere Vereine das mit ein bisschen Argwohn betrachten, aber im Prinzip hatte Wasserball keine andere Chance, nur diese eine: Hagen Stamm.
Sie haben sie genutzt. Und jetzt, hier in Athen, sind die Deutschen endlich wieder aufgetaucht und haben gleich Griechenland geschlagen, was natürlich nichts damit zu tun hat, dass sie schon wieder Weltklasse wären, nie und nimmer. Schließlich haben die führenden Nationen die Nase immer noch vorne, was man auch daran erkennen kann, dass die deutschen Wasserballer ziemliche Amateure sind im Vergleich zur Konkurrenz. „Jeder Grieche verdient hier mehr als meine erste Sieben zusammen“, hat Stamm auf diesen Umstand hingewiesen, auf absehbare Zeit ändern wird selbst er das nicht können. Entmutigen lassen sich die Männer vom DSV dadurch freilich nicht, lieber weisen sie auf Tugenden hin, die man mit Geld nicht kaufen kann und die als ihr großer Trumpf gelten. „Wir treten immer als Mannschaft auf. Und wir stecken nie auf“, sagt Tim Wollthan.
Nette und höfliche Kerle sind sie sowieso alle. Wie höflich sie sind, konnte sogar Christa Thiel, die DSV-Präsidentin, beim Olympia-Qualifikationsturnier in Rio de Janeiro erfahren. Als die deutschen Wasserballer ihr Athen-Ticket sicher hatten, fragten sie die Funktionärin erst brav, ob sie sie in all ihrer Freude mal kurz ins Wasser schmeißen dürften. „Sie hat nicht nein gesagt“, erinnert sich Hagen Stamm. Kurz darauf flog Christa Thiel in hohem Bogen ins Becken.
Wie weit all diese Höflichkeit und Kampfkraft führen kann, hier bei Olympia, wissen sie freilich selbst noch nicht so recht. Heute steht das nächste Spiel an, gegen Ägypten geht es. Ägypten wird allseits für schlagbar gehalten – und wenn sie dann noch mal gewinnen sollten, dann könnte das schon reichen, um einen Platz unter den besten sechs hier bei Olympia sicher zu haben. Wo eigentlich fängt die Weltspitze an?