■ Was tun die liberalen Muslime Südasiens für Nasrin?: Eine seltsame intellektuelle Paralyse
Sie befinden sich mehr und mehr in einer Art mentaler Belagerung, die nahezu 350 Millionen Muslime in Südasien. Westliche Meinungsmacher mögen die in Bangladesch untergetauchte Schriftstellerin Taslima Nasrin als hilfloses Opfer religiöser Fundamentalisten betrachten, dem von außen geholfen werden müsse. Für die große Mehrheit der Muslime in Bangladesch, Sri Lanka und Indien machen diese Sympathiebekundungen und das Angebot politischen Asyls die Autorin noch suspekter. So wird sie zur „Fremden“, die die eigene Kultur bedroht. Viele Muslime verstehen die internationale Empörung über die von Fundamentalisten gegen Taslima Nasrin verhängte Todesdrohung überhaupt nicht. Für die Muslime ist das nur ein weiterer Versuch, den Islam in den Dreck zu treten und das Stereotyp von den Muslimen als bigotter, mittelalterlicher Gemeinschaft zu stärken. Das denken etwa Leute wie der bekannte indische muslimische Kolumnist Iqbal Masud. Er ist überzeugt, daß es eine konzertierte Anstrengung des Westens gibt, Muslime als religiöse Eiferer zu zeichnen.
Masud selbst ist dennoch gegen die Kopfjagd auf Nasrin. Seine Ansichten reflektieren das, was ein Großteil muslimischer Liberaler in Indien und sonstwo in der Region wohl denkt. Es sind gerade die liberalen Muslime in Südasien und nicht die Fundamentalisten oder Obskuranten, die am meisten von den kontroversen Äußerungen der jungen Autorin aus Bangladesch schockiert sind. Von jeher neigten die liberalen Muslime immer dazu, eine Doppelexistenz zu führen. Ihr privates Leben und ihre privaten Ansichten sind durchaus denen in anderen Religionsgemeinschaften vergleichbar. Sie werden jedoch Opfer einer seltsamen intellektuellen Paralyse, sobald sich eine öffentliche Kontroverse über Fragen des islamischen Glaubens oder sozialen Verhaltens entzündet.
Sei es die fundamentalistische Todesdrohung gegenüber dem Schriftsteller Salman Rushdie oder die gegenwärtige Vendetta gegen Taslima Nasrin: statt sie zu unterstützen, geht man ins Extrem und gibt den oppositionellen AutorInnen die Schuld. Erschwerend unterstellt man dann auch noch jenen, die für die beiden Angegriffenen auf die Barrikaden gehen, Hintergedanken und wirft ihnen vor, dem Islam und den Muslimen zu schaden.
Diese Paranoia unter liberalen Muslimen ist besonders akut in Indien, weil sie sich dort nicht nur als Opfer westlicher Vorurteile, sondern auch der hinduistischen Mehrheit sehen. Liberale in der indischen muslimischen Gemeinschaft sind extrem vorsichtig in Glaubensfragen geworden, nachdem Hindu-Fundamentalisten sie in den vergangenen Jahren als Verräter zu verunglimpfen suchten, die den Glauben über die Vaterlandsliebe stellten.
Es ist kaum verwunderlich, daß es nur einige wenige muslimische Stimmen in Indien gibt, die Taslima Nasrin unterstützen. Ein prominenter indisch-muslimischer Anwalt, Daniel Latiffi, schrieb gar diese Woche in einer Zeitung Neu-Delhis, daß man der flüchtigen Autorin nur dann politisches Asyl gewähren könne, wenn sie aufhören würde, mit ihren Äußerungen die religiösen Gefühle der Gemeinde zu verletzen. „Zu viel Redefreiheit kann zu Zuständen wie in Europa führen, wo Kinder nicht zögern, ihre eigenen Eltern zu mißbrauchen“, schrieb der Mann, der für seine liberalen Ansichten bekannt ist.
Obwohl sie den religiösen Fanatismus verachten, sehen muslimische Liberale immer noch keinen Platz in ihrer Gesellschaft für bilderstürmerische Intellektuelle vom Schlage Taslima Nasrins. Ihre Ängstlichkeit, mit den Fundamentalisten die Klingen zu kreuzen, gibt letzteren aber gerade noch größere Verve, ihre stereotypen Vorstellungen vom Islam durchzusetzen. Die Kontroverse um Taslima Nasrin hat dieses tragische Paradoxon der Muslime in Südasien offenbart wie kein anderer Fall zuvor. Ajoy Bose
The Pioneer in Neu-Delhi; Übersetzung: AS
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