Was nur einmal passieren darf

■ Frauen mit mehreren Abtreibungen gelten als nachlässig, unaufgeklärt, psychisch defekt oder unmoralisch/Der Mehrfachabbruch ist auch unter engagierten Frauen ein Tabu/Eine Hamburger Studie entzieht derlei ...

Eine Gynäkologin eines Ostberliner Krankenhauses, eine Ärztin in führender Stellung, erklärte öffentlich: Frauen, die mehrmals abtreiben, sollte man „spürbar finanziell“ beteiligen. Unausgesprochene Moral: mit der Fristenregelung haben es die Frauen zu leicht. „Spürbare“ Strafe muß sein.

Wer mehr als einmal abtreibt, gilt als nicht normal. Die einen möchten die Frauen sofort in die Therapie schicken, die anderen am liebsten bestrafen. Statt Mitleid und Unterstützung erfahren Frauen nach mehreren Abbrüchen Unverständnis und Ablehnung.

Das hätte nicht noch mal passieren dürfen - die Studie von Elsbeth Meyer, Susanne v. Paczensky und Renate Sadrozinski über wiederholte Schwangerschaftsabbrüche ist ein Glücksfall. Ihr Buch kommt wie gerufen, um in die aktuelle Diskussion Vernunft zu bringen. Die Autorinnen, Mitarbeiterinnen des Familienplanungszentrums Hamburg, nehmen nicht nur den Mythos der perfekten Verhütung auseinander. Sie machen deutlich, daß die Diagnose „psychische Probleme“ oder „unbewußter Kinderwunsch“ den betroffenen Frauen nicht gerecht wird, und beleuchten Sexualmoral und Frauenbild, die dazu führen, daß selbst „gute Freundinnen“ mit Abwehr reagieren.

Im Sommer 1987 begannen die Autorinnen mit den Untersuchungen: Sie führten zunächst Gruppengespräche, dann 21 ausführliche Einzelinterviews mit betroffenen Frauen, ÄrztInnen, Beraterinnen und unbeteiligten Dritten. Für die Darstellung ihrer Ergebnisse wählten sie eine Form, die es der Leserin, dem Leser leicht macht, konzentriert bei der Sache zu bleiben. Eindrucksvolle Gesprächsprotokolle wechseln ab mit zusammenfassenden Analysen zu Einzelaspekten. Die Autorinnen machen dabei keinen Hehl aus ihrer Parteilichkeit. Sie verschweigen nicht, daß ihre Haltung zu dem Thema und den Befragten die Gespräche und Ergebnisse beeinflußte: „Abtreibungsgegner würden andere Fragen stellen, andere Antworten erhalten.“ Sie bieten so feministische Wissenschaft, wie sie besser und erkenntnisreicher nicht sein könnte.

Immer wieder wird in der aktuellen Auseinandersetzung über den Paragraphen 218 und die Fristenlösung der Mehrfachabbruch ins Feld geführt, um liberale Regelungen bzw. die Straffreiheit von Abbrüchen zu denunzieren. Die Quote der Mehrfachabbrüche in der DDR soll 35 Prozent betragen. Aber: die Autorinnen der Hamburger Studie schätzen, daß es in der Bundesrepublik trotz des strengeren Strafrechts bei jeder zweiten Frau zu einem weiteren Abbruch kommt. Wie ist das zu erklären? Sind die Frauen unaufgeklärt, ungebildet, nachlässig? Nichts von alledem, erkannten die Autorinnen bei ihrer mehrjährigen Forschung. Schuld an der Überzeugung, wer nicht schwanger werden will, braucht es heutzutage auch nicht zu werden, trägt die Verhütungslegende.

Ein Fünftel der befragten Frauen wurde trotz korrekter Verhütung schwanger, trotz Pille und Spirale, trotz Diaphragma und Kondom. Selbst bei der als sehr sicher geltenden Spirale liegt das Risiko einer Schwangerschaft bei ein bis zwei Prozent. In der Bundesrepublik könnten so zehn bis fünzehntau send Frauen allein aufgrund des Versagens der Spirale schwanger werden. Viele Frauen wollen die als sehr sicher geltende Pille oder Spirale aber nicht benutzen, aus gesundheitlichen oder seelischen Gründen - und greifen bewußt zu risikoreicheren Mitteln wie dem Diaphragma. Sind sie deshalb verantwortungsloser, nachlässiger? Wohl kaum. Die Studie führt vor Augen: Die perfekte Verhütung gibt es nicht, denn sie setzt perfekte Frauen und Männer voraus. Da wird der Präser im Hotelzimmer vergessen, oder frau verzählt sich in ihrem Zyklus, oder... Es sind alltägliche Mißgeschicke - allen heterosexuellen Paaren bekannt. Manche Frauen wollen jedoch in bestimmten Situationen nicht verhüten. Sie können die Liebe dann anders genießen, empfinden den Griff zum Diaphragma störend und hoffen darauf, daß alles gutgeht. Dieses von vielen ÄrztInnen als „irrational“ beklagte Verhalten dürfte sehr vielen Frauen bekannt sein. Wenn es nun bei der einen Frau „gutgeht“, bei der anderen nicht, so ist dies vor allem ein Hinweis auf die Verschiedenheit von Frauen in ihrer Fruchtbarkeit. Und die Autorinnen beharren auf der einfachen Wahrheit, daß alles, was einmal auch zwei- oder dreimal passieren kann.

Die Gewinner der Verhütungslegende sind die Männer. Weil es die angeblich so sicheren Methoden gibt, können sie sich aus der Verantwortung ziehen. Manche Frauen berichten, daß sie es bei bestimmten Männern nicht wagen, die Verhütungsfrage anzuschneiden. Mehr oder minder subtil wird Druck ausgeübt. Meines Erachtens weisen die Autorinnen in ihrem Buch jedoch zu wenig auf die gewalttätige Seite einer „fehlgeschlagenen Verhütung“ hin. Die Zahl der Vergewaltigungen in der Ehe ist erschreckend hoch, und es ist davon auszugehen, daß ungewollte Schwangerschaften auch Resultat erzwungener Penetrationen sind.

Wovon wird man eigentlich schwanger ist das Kapitel der Studie überschrieben, das sich den Erklärungsmustern der Frauen selbst widmet. Entgegen der zitierten Meinung einer feministischen (!) Therapeutin, Frauen mit mehreren Abbrüchen gingen „nachlässig, schlunzig und ziemlich unbewußt“ mit sich um, machen sich die Frauen tatsächlich sehr viele Gedanken. Das ist nicht verwunderlich: Da der Mehrfachabbruch stigmatisiert wird, ist die Suche nach Erklärungsmustern entlastend und sorgt für Legitimation. Häufig sehen die Frauen dabei „magische“ oder „spirituelle“ Zusammenhänge, um sinnhaft die eigene Lebenssituation interpretieren zu können. So erkannten manche Frauen, daß sie nur zu bestimmten Zäsuren ihres Lebens schwanger wurden, Zeiten in denen sie Entscheidungen treffen mußten. Andere stellen fest: „Je verliebter ich bin, desto leichter passiert es.“ Viele interpretieren die Schwangerschaft rückwirkend als „Beziehungstest“. Wie verhält er sich, hält er zu mir, läßt er mich fallen? Veränderungen in der individuellen Lebenssituation, so das Resümee der Studie, haben einen erheblichen Einfluß auf Fruchtbarkeit und Empfängnisbereitschaft. Frauen, die mehrfach ungewollt schwanger werden und sich mehrfach zu einer Abtreibung entschließen, haben nicht zwangsläufig psychische Probleme: sie reagieren vielleicht nur anders als andere Frauen. Die Fruchtbarkeit von Frauen ist unterschiedlich, ihr Umgang mit Verhütung ist unterschiedlich, das Zusammenspiel von Seele und Körper ebenfalls.

Oft genug steht bei ÄrztInnen und TherapeutInnen als Erklärung der „unbewußte Kinderwunsch“ hoch im Kurs. Aber eine Schwangerschaft und die Frage der Entscheidung - will ich das Kind austragen, will ich es nicht - eröffnet Frauen ja gerade die Möglichkeit sich mit dem Wunsch nach Kindern auseinanderzusetzen und eine bewußte Entscheidung zu treffen. Viele der befragten Frauen berichteten ganz offen von ihrem Wunsch nach Kindern; aber die persönlichen, familiären oder gesellschaftlichen Verhältnisse ließen es für sie nicht zu. Der Konflikt besteht zwischen Wunsch und Wirklichkeit und ist oft begleitet von Gefühlen der Trauer und des Verlustes. So erzählte eine 32jährige Goldschmiedin, die ein Kind geboren hat und neun Abtreibungen machen ließ: „Ich glaube nicht, daß ich das hinkriege, viele Kinder zu haben. Ich spür einfach, daß ich es nicht schaffe, hier in der Stadt, also hier in Deutschland. Jedesmal wenn ich wieder schwanger war, kriegte ich unheimlich Angst bei der Vorstellung, alleinerziehende Mutter mit mehreren Kindern zu sein. (..) Es ist zu schwer. Ich bin keine Frau, die ausschließlich im Mutterdasein aufgeht.“

Die Erklärung, wiederholt abtreibende Frauen hätten generell einen uneingestandenen Kinderwunsch, wird den betroffenen Frauen nicht gerecht. Denn: „Sie (diese Erklärung, d.Red.) geht von einer natürlichen Mütterlichkeit aus und reduziert damit die komplexe Lebenswirklichkeit von Frauen auf ihre Fortpflanzungsfähigkeit.“ Selbstverständlich erkennen die Autorinnen an, daß psychische Probleme eine Rolle spielen können und psychotherapeutische Behandlung Frauen helfen kann, undurchschaute Konstellationen zu erkennen oder Schuldgefühle aufzuarbeiten. Aber aus dem Mehrfachabbruch schlechthin ein „psychisches Symptom“ machen zu wollen, lehnen sie ab. Hilft der „unbewußte Kinderwunsch“ vielleicht nur den HelferInnen, die Frauen zu akzeptieren? „Solange Schwangerschaftsabbruch als moralisch verwerflich angesehen wird, als traumatischer Eingriff in die Psyche der Frauen gilt und strafrechtlich geregelt ist, erscheint es vielleicht nötig, zwingende Gründe zur Rechtfertigung zu finden. Und was könnte zwingender sein als die Natur der Frau?“

Warum werden die betroffenen Frauen so oft „von allen verlassen“? Warum reagieren nicht nur ÄrztInnen und BeraterInnen mit Unverständnis, sondern oft auch die Freundinnen? „Ich habe mich mit einer guten Freundin beim letzten Abbruch ziemlich überworfen, weil sie das überhaupt nicht begriffen hat und mich dafür unheimlich angemacht hat. Weil sie geglaubt hat, ich wäre nun völlig leichtfertig. Ich setzte leichtfertig meine Gesundheit aufs Spiel.“ Hinter den „freundschaftlichen“ Vorwürfen, so vermuten die Autorinnen, könne eine Form der Angstabwehr stecken. Denn das Eingeständnis, nicht die eigene Vorsicht und Sorgfalt, habe mehrere Abtreibungen erspart, sondern viellicht nur Glück und Zufall, wirkt beunruhigend. „Wir kennen diesen Mechanismus auch bei andern Unglücken, die Frauen widerfahren - bei Gewalt oder sexuellen Übergriffen. Die Nicht-Betroffenen können ruhiger leben, wenn sie unterstellen, daß Opfer habe durch Unvorsichtigkeit oder Herausforderung zum Schaden selbst beigetragen.“

Der Mehrfachabbruch ist ein Tabu. Auch Feministinnen, Frauen aus §218-Gruppen können schwer damit umgehen. Gilt das Selbstbestimmungsrecht von Frauen nur einmal? Haben Frauen mit mehreren Abbrüchen nicht genauso Anspruch auf Unterstützung und eine faire Behandlung? Gibt es ein portioniertes Selbstbestimmungsrecht? (In der DDR müssen Frauen, wenn sie das zweite Mal innerhalb von sechs Monaten abtreiben, die Genehmigung einer fachärztlichen Kommission einholen.) Die Autorinnen kommen zu dem Schluß, daß trotz veränderter Sexualmoral immer noch ein Frauenbild von „Sittsamkeit und Mütterlichkeit“ sein Unwesen treibt. Zwar wird der Vorwurf selten direkt ausgesprochen, mehrfach abtreibende Frauen hätten ein ausschweifendes Sexualleben, aber fast immer schwingt mit, die Frauen führten einen zügellosen Lebenswandel, hätten einen haltlosen Charakter. Bei der Lektüre ist auffallend, wie stark die Parallelen sind zu den Bildern, mit denen Prostituierte stigmatisiert werden. Gelten nicht auch sie als haltlos, moralisch nicht einwandfrei, als ungebildet und ein bißchen „asozial“. Stochert man bei ihnen nicht auch nach psychischen Defekten

-oder will sie lieber gleich unter Kontrolle stellen?

Der Rahmen, in dem sich Frauen zu verhalten haben, hat sich zwar gegenüber früheren Jahrzehnten verschoben, ist aber immer noch enggesteckt. Frauen müssen heute vor allem funktionieren, schlußfolgern die Autorinnen. Frauen dürfen, sollen, müssen heute Sex haben, vor allen Dingen müssen sie aber perfekt verhüten. Denn weder viele Kinder noch viele Abbrüche sind moralisch oder sozial anerkannt.

Selten ist mir in der jüngsten Zeit bei der Lektüre eines „Frauenbuches“ so klar vor Augen geführt worden, wie umfassend die gesellschaftlichen Systeme zugunsten der Männer funktionieren und wie stark das eigene Denken aller feministischer Einstellung zum Trotz davon beeinflußt ist. Elsbeth Meyer, Susanne v. Paczensky und Renate Sadrozinski gebührt Dank und Anerkennung für ihre Arbeit.

Elsbeth Meyer, Susanne v.Paczensky, Renate Sadrozinski: Das hätte nicht noch mal passieren dürfen. Wiederholte Schwangerschaftsabbrüche und was dahintersteckt. Frankfurt 1990, DM 9,80