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FUTURZWEI

Was kommt nach der Party? Die wilden Zwanziger

Eine Bundesregierung, die sich desto intensiver weigert, fortschrittlich zu sein, je offensichtlicher die ökologischen Probleme werden, hat im buchstäblichen Sinn keine Zukunft.

Bild: Sebastian Wells

Von HARALD WELZER

Neulich, in der Aktionswoche von »Extinction Rebellion« in Berlin, habe ich mir angesehen, wie die Polizei den Verkehrsknotenpunkt Großer Stern von Sitzblockierern geräumt hat. Das war ein erstaunlicher Vorgang: Die Polizistinnen und Polizisten gingen freundlich (»Hi, ich bin Conny«) auf die Sitzenden zu und fragten, ob sie lieber gehen oder getragen werden wollten. Die (meist unerfahrenen) Demonstrantinnen und Demonstranten schwankten zwischen zäher Entschlossenheit und fehlender Gegnerschaft, sagten »Ja, okay« und gingen so oder so mit der Staatsgewalt, aber nur ein paar Meter weiter.

Bürgerinnen und Bürger in Uniform und auf der Straße – das schien mir beidseitig höchst zivilisiert und ich dachte: Wir leben in einer Gesellschaft, in der selbst Antagonisten eine an sich problematische Situation zivilisiert auflösen können, fantastisch! Hier öffnet sich ein Handlungsraum, wie ihn moderne Demokratien gerade in Stress- und Konfliktsituationen dringend brauchen. Wer sich noch an Brokdorf, Grohnde oder die Startbahn West erinnern kann, sieht sofort, wie sich die Bundesrepublik in den vergangenen Jahrzehnten weiterentwickelt hat.

Vor diesem Hintergrund ist es allerdings nochmal erschreckender, wie ignorant sich dagegen die Regierungspolitik gegenüber allen wissenschaftlichen Argumenten und generationellen Forderungen verhält, die ja die Grundlage des Protestes bilden.

Die Demo als modellbildender Handlungsraum

Denn im Ideal könnte doch der Handlungsraum, den Polizei und Demonstrierende am Großen Stern miteinander bildeten, modellbildend für die notwendige gesellschaftliche Problemlösung insgesamt sein: Denn zweifellos würde eine wirklichkeitsangemessene Reaktion auf die Erderhitzung für viele Einschränkungen des gewohnten Lebensstils und auch höhere Kosten bedeuten, weshalb verständlich ist, wenn es dagegen Widerstände gibt. Und ebenso zweifellos würden, selbst wenn diese Einschränkungen zähneknirschend eingeräumt würden, längst nicht alle Probleme gelöst, die mit der jahrzehntelangen Übernutzung der Naturressourcen einhergingen. Aber zwischen diesen Polen wäre doch ein praktischer Konsens darüber erreicht, dass man das gemeinsame Interesse hat, ein künftiges Zusammenleben nach den Standards einer modernen freiheitlichen Demokratie möglich zu machen.

Dann könnte man die nötigen Dinge anpacken.

Das Problem ist aber, dass die Politik der Bundesregierung aus Union und SPD sich ostentativ weigert, die klimabedingten Notwendigkeiten anzuerkennen und in geradezu zynischer Entschiedenheit alles vom Tisch wischt, was Wissenschaft und junge Generation vorbringen. Das ist besonders tragisch, weil es ja noch nie zuvor ein klareres gesellschaftliches Momentum für eine konsequente Klimaschutzpolitik gab, die eben auch einige Härten für die Steuerbürgerinnen und -bürger mit sich bringt. Aber der wirklichkeitsentrückten Bundesregierung reicht es nicht mal zu einem Tempolimit, geschweige denn zu einer Renaissance einer Ordnungspolitik, die umwelt- und klimaschädliches Verhalten entschieden sanktioniert, Konsumformen verbietet, die extrem zerstörerisch sind, und den Leuten auch sagt, warum eigentlich.

Nicht mal von den Grünen traut sich jemand, eine Blut-, Schweiß- und Tränenrede zu halten und zu sagen, weshalb tiefgreifende Transformationen des Betriebsablaufs der Bundesrepublik notwendig sind. Uns infantilisierten Konsumbürgerinnen und -bürgern wird einfach nichts zugemutet, dabei könnte man uns durchaus mal sagen, dass wir uns bei einer jährlichen Kaufkraftsteigerung von etwa 700 Euro pro Kopf nicht so haben sollen, wenn wir ein paar Euro für das künftige Überleben abdrücken sollen. An dieser Stelle schreien fast alle Parteien im Scheinheiligen-Chor, dass man die Leute mit geringerem Einkommen auf keinen Fall belasten dürfe. Das will ja auch keiner. Das auszutarieren, ist doch genau der Job derjenigen, die schreien.

Konflikte sind Mittel der Erkenntnisbildung, Verbote die Rückseite der Freiheit

Konflikte sind Mittel der Erkenntnisbildung, Verbote die Rückseite der Freiheit. Es gibt kein interesseloses und machtneutrales Ringen um Ausgleich und Kompromiss. Und in einer Erwachsenengesellschaft haben sich auch nicht alle lieb. Was es braucht, ist die unabweisbar notwendige ökologische Modernisierung gegen partikulare Interessen durchzusetzen, den Strukturwandel für eine Zeit nach der Autoindustrie besser vorzubereiten als für die Zeit nach der Kohle, weniger Konsum, weniger Mobilität, weniger Flächenverbrauch zu realisieren und sich auf eine Zukunft einzustellen, in der Solidarität mit anderen zivilisatorischer und politischer Standard ist.

Bei all dem geht es um nichts anderes als um die Weiterentwicklung des zivilisatorischen Projekts der offenen Gesellschaft. Und die muss unausweichlich darin bestehen, einen wirtschaftlichen Stoffwechsel zu entwickeln, der die Natur nicht fortgesetzt weiter zerstört. Und zwar nicht um der Natur willen, sondern weil das die einzige Möglichkeit ist, auch künftig ein Leben in Freiheit und Sicherheit zu gewährleisten.

Eine Politik, die sich desto intensiver weigert, fortschrittlich zu sein, je offensichtlicher die ökologischen Probleme werden, hat im buchstäblichen Sinn keine Zukunft. In ihrem Schlafwandlermodus sorgt sie dafür, Krisen und Konflikte weiter zu dynamisieren und den notwendigen Handlungsraum permanent zu verkleinern. Das ist die Epochenschwelle, an der wir gerade stehen: die roaring twenties des 21. Jahrhunderts. Und wie vor hundert Jahren ist die Frage: Was kommt nach der Party? Der Zivilisationsbruch? Oder eine ökologisch aufgeklärte Gesellschaft, die die Kurve gekriegt hat, weil sie erwachsen geworden ist und zu tun beschlossen hat, was nötig war.

Harald Welzer ist Herausgeber von taz FUTURZWEI.