■ Was ist schon ein Mensch gegen ein amtliches Ausweispapier: Paßrupfen an Rußlands Grenze
Der Mensch ist nichts, sein Paß ist alles. Daß dieser international geltende Grundsatz oft sehr handfeste Folgen zeitigt, spürt derzeit neben Millionen Leidensgenossen auch Igor K. Der mit einer Deutschen verheiratete Russe wollte nämlich längst wieder bei seiner Frau in Berlin sein, sitzt aber zur Zeit mit einem zerfledderten Paß in seinem Heimatland fest.
Als Igor K. im Dezember zu einer Reise gen Osten aufbrach, war der Paß noch komplett. Die russisch-lettische Grenze passierte der Mann ohne Probleme. An der Grenze zwischen Lettland und Litauen aber entging er einer Verhaftung nur noch mit knapper Not. Ein Blick in seinen Paß zeigte ihm, warum: Der war plötzlich um einiges dünner, unter anderem fehlte die Seite mit seiner unbefristeten Aufenthaltsgenehmigung in Deutschland. Die Paßfledderei mußte eine Staatsgrenze vorher stattgefunden haben, aber ob sich nun die russischen oder die lettischen Grenzbeamten an dem Dokument erfreuten, wußte er nicht. Was er wußte: Für derlei Stempelchen sind auf dem Schwarzmarkt Höchstpreise zu erzielen.
Das Wissen darum nützt Igor K. nichts, denn nun muß er sich einen neuen Paß mit einem neuen Einreisevisum für Deutschland besorgen. Eine höchst zeitraubende Angelegenheit, ein Full-time-Job für Wochen. Wer es schneller haben will, muß Bestechungsgelder zahlen, jedenfalls in den Metropolen Moskau und Petersburg. Und wer jene Art von Mafia nicht auf diese Weise alimentieren möchte, sitzt eben fest.
Die Berliner Ehefrau von Igor K. ärgert sich darüber grün und blau. Sie erzählte die Geschichte der taz, um andere Leute zu warnen. An den Grenzen Osteuropas und Rußlands herrsche „die reine Willkür“, weiß sie aus eigener Erfahrung. Mal braucht man Transitvisa, mal nicht, mal soll man sechshundert Prozent Zoll auf alle Sachen im Koffer zahlen und nach einer Viertelstunde Gerede nichts mehr. Ein Bekannter von ihr sei trotz gültigen Visums nicht nach Rußland hineingekommen, ein ihr ebenfalls bekannter US-Amerikaner hingegen sei „mit null Visum“ problemlos durch alle Länder Osteuropas gereist. Die Sache mit dem Paßfleddern, befand sie, habe aber nun doch eine neue Qualität.
Einmalig, unerhört, Skandal? Aus der DDR stammende Mitarbeiter der taz konnten da nur gähnen: „Als ich nach Afghanistan wollte, haben sie mir in Tadschikistan meinen DDR-Paß vollkommen zerrupft.“ Ute Scheub
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