■ Was hilft bei Übelkeit, Kopfweh und Epilepsie?: Marihuana – die verbotene Medizin
Berlin (taz) – Dieses Buch „hat schon jetzt möglicherweise mehr ins Rollen gebracht als das Kursbuch der Bahn“ schrieb unlängst das Szenemagazin Marabo über Jack Herers „Die Wiederentdeckung der Nutzpflanze Hanf“. Als Herausgeber freuen einen solche Superlative, auch wenn sie ziemlich übertrieben sind: staatlicherseits wird das Unternehmen Hanfzukunft nach wie vor blockiert.
Der Grund, warum der ICE unter den nachwachsenden Rohstoffen nicht ins Rollen kommt, heißt Tetrahydrocannabinol (THC) – dieser berauschende Stoff ist in den Hanf-Sorten zur Textil-, Papier- und Ölgewinnung zwar nur in verschwindend geringen Mengen enthalten, dennoch ist ihr Anbau in Deutschland verboten. In dieser Hanf-Hysterie ist die Bundesrepublik einzig unter den europäischen Staaten, in den Nachbarländern wird der Faserhanf-Anbau nicht nur genehmigt, sondern mit fetten EU-Prämien subventioniert.
Hierzulande dagegen blockieren engstirnige Bürokraten und Prohibitionseiferer nicht nur den Hanfanbau, sondern auch die Förderung der Erforschung und die Entwicklung innovativer Hanfproduktion. Wissenschaftler, die bei der zuständigen „Bundesopiumstelle“ um Genehmigungen für Forschungsflächen nachsuchen, werden von den Beamten quadratmeterweise heruntergehandelt – jede einzelne Faserhanfpflanze stellt in ihren Augen eine Gefahr für die Volksgesundheit dar. Demnächst werden die Gesundheitsschützer wahrscheinlich völlig aus dem Häuschen geraten: nachdem jetzt das Buch von Lester Grinspoon („Marihuana – die verbotene Medizin“, Zweitausendeins- Versand) auf deutsch erschienen ist, kann es nicht mehr lange dauern, bis die ersten Forscher den Antrag stellen, „Durban Poison“, „Super Skunk“ und andere extrem THC-reiche Hanfsorten anzubauen – zum Zwecke der Heilmittelforschung. Was der Mediziner Grinspoon und sein Co-Autor Bakalar in diesem Buch präsentieren, ist einfach unglaublich: wer an beliebiger Stelle eine der Fallgeschichten aufschlägt, könnte glauben, sich in eine Story im Reader's Digest, oder ein „explosives“ Junk- TV-Magazin verirrt zu haben. Schwerkranke werden auf wunderbare Weise geheilt, Bettlägerige und Lahme stehen wieder auf, chronische Patienten erfahren nach einer Odyssee durch das pharmazeutische Waffenarsenal erstmals Linderung – und das alles durch ein simples uraltes Kraut: Cannabis.
Ein seit Wochen bewegungsunfähiger Multiple-Sklerose-Patient, der mit Freunden einen Joint geraucht hat, steht zu seiner eigenen Überraschung auf, als sie sich verabschieden; ein von Blindheit durch grüner Star Bedrohter erhält sein Augenlicht durch regelmäßigen Marihuana-Konsum; bei einem berühmten Anthropologen (Steven Jay Gould) konnte kein Medikament die grauenhafte Übelkeit nach der Chemotherapie verhindern, außer Marihuana, „das half wie ein Zauberspruch“.
Auch die anderen Patientenberichte und Fallgeschichten über die Wirkungen des Krauts bei Epilepsie, Aids, Migräne, Menstruationskrämpfen oder Neurodermitis klingen so unglaublich, daß man sich eher im Goldenen Blatt als in einem seriösen medizinischen Sachbuch wähnt – doch der Autor dieses Buchs ist Medizinprofessor an der Harvard-Universität, das Original erschien in der renommierten „Yale University Press“, das Vorwort zur deutschen Ausgabe stammt vom Präsidenten der Berliner Ärztekammer Dr. Ellis Huber, und das Kölner Katalyse- Institut hat eine Studie über die rechtliche Situation und den Stand der Forschung in Deutschland verfaßt ...
Bei einem aufsehenerregenden Gerichtsverfahren vor einigen Monaten in England, bei dem eine Ärztin angeklagt war, ihrer Tochter wegen chronischer Übelkeit und Migräne dreimal täglich Haschisch verabreicht zu haben, wurden die Forschungen des Harvard- Professors als Beweismaterial herangezogen – die Ärztin wurde freigesprochen.
„Marihuana ist eine der am wenigsten toxischen Substanzen in der Pharmazie. Es kann auf extrem vielen Gebieten der Medizin Anwendung finden. Dank der Desinformationskampagne der Regierung wurde dies bisher mißachtet“ – diese Conclusio Lester Grinspoons bringt das Problem auf den Punkt und erklärt, warum die Krankengeschichten dieses Buchs auf den ersten Blick so unglaublich wirken.
In der offiziellen Lesart der Regierungen zählt dieses ungiftige Kraut, das „weniger Nebenwirkungen hat als Aspirin“, zu den gefährlichsten Drogen überhaupt. Die in den 30er Jahren in den USA gestartete Desinformationskampagne über Hanf („Mörder der Jugend“) wirkt bis heute nach und hat sich so tief ins öffentliche Bewußtsein eingegraben, daß sowohl die 5.000jährige Geschichte des Heilkrauts Hanf als auch die modernen Verwendungen der Hanfmedizin verdrängt wurden.
Daß als Bestandteil der bäuerlichen Hausapotheke über Jahrhunderte THC-reiche weibliche Hanfblüten auf dem Speicher hingen ist ebenso vergessen wie die Tatsache, daß noch Ende letzten Jahrhunderts Hanf-Tinkturen wie Dr. Dralles „Somnium“ auf den Nachttischen des Kaiserreichs als entspannende Einschlafhilfe selbstverständlich waren. Heute produziert diese Firma nur noch Haarwasser, während das Geschäft mit der Schlaflosigkeit aus kleinen Chemie-Klitschen riesige Pharma-Konzerne werden ließ.
Wenn aber die medizinischen Qualitäten dieses Krauts so außerordentlich, seine Nebenwirkungen so gering sind, wie konnte diese Arznei dann so restlos unterdrückt, vergessen und verboten werden? Warum kann heute der Arzt starke und suchterzeugende Beruhigungsmittel wie Valium jedem Kind verschreiben, während ihm Gefängnis droht, wenn er den wirksamen, aber harmlosen Hanf empfehlen würde?
Der Grund dafür ist nicht medizinischer, sondern ökonomischer Art: Hanf-Tinktur, geschweige denn die einfachen getrockneten Blüten, sind nicht patentierbar. Anders als mit industriell gefertigten Präparaten wie Aspirin oder Heroin war mit der noch im letzten Jahrhundert weit verbreiteten Billigmedizin vom Acker kein Geschäft zu machen. Die Produktion von einem Kilo feinstem Marihuana, ausreichend für tausend Asthma-Zigaretten, kostet etwa soviel wie ein Kilo Kartoffeln – für diesen Preis lassen sich tausend Asthma-Anfälle so wirksam stoppen wie mit keinem anderen Medikament, ohne irgendeine Nebenwirkung, während die heute gängigen Asthma-Präparate schwere und auf Dauer oft sogar tödliche Schäden anrichten.
Eklatante Beispiele wie dieses finden sich Dutzende in diesem Buch, – und ein einziges würde bei jeder anderen Pflanze ausreichen, um schlagartig das Interesse von Ärzten und Pharmaforschung zu wecken. Beim dämonisierten Hanf allerdings steht zu befürchten, daß selbst die schlagende Beweiskraft von Hunderten dokumentierter Fälle nicht ausreicht, um die Pflanze zurück in die Hausapotheke zu bringen.
Für die Hersteller von Schlafmitteln drohte ein Milliardenverlust, würde etwa ein grüner Gesundheitsminister den Hanf als unschädlicheren und weit kostengünstigeren Valium-Ersatz rehabilitieren. Insofern können wir sicher sein, daß die ökologische Wende in der Pharma-Politik noch eine Weile auf sich warten läßt. Deshalb ist für Grinspoon klar, daß nur eine Legalisierung des Cannabis- Konsums zu einer ausreichenden Versorgung mit dem Heilmittel Hanf sorgen kann. „Da haben wir's mal wieder“, sagt da der Hanf- Gegner, „die wollen nur kiffen und erzählen uns hier einen von Nutzpflanze und Heilmittel.“ Wer von den verzweifelten Bemühungen leidender Menschen liest, sich die verbotene Medizin zugänglich zu machen, weiß um die Unrichtigkeit solcher Behauptungen. Wenn dieses Buch nichts ins Rollen bringt, haben die Weißkittel dieser Republik jeden Namen verdient, nur nicht den des Arztes, Helfers und Heilers. Mathias Bröckers
Lester Grinspoon/James B. Bakalar: „Marihuana – die verbotene Medizin“. Zweitausendeins-Versand Frankfurt, 285 Seiten, geb., 25 Mark
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen