: Was den Briefträgerinnen gefällt
Zum 120-jährigen Jubiläum der Künstlervereinigung präsentiert das Brücke-Museum seine Sammlung. Ausgewählt wurden die Exponate vom Publikum

Von Tilman Baumgärtel
Am 7. Juni 1905 fanden sich in Dresden vier Studenten der Technischen Hochschule zusammen, die alle einen ähnlichen farbig-expressiven Malstil pflegten, um eine Künstlergruppe zu gründen. Auf Anregung des Gruppenmitglieds Karl Schmidt-Rottluff nannten sie sich „Die Brücke“. „Schmidt-Rottluff sagte, wir könnten das Brücke nennen – das sei ein vielschichtiges Wort, würde kein Programm bedeuten, aber gewissermaßen von einem Ufer zum anderen führen“, schrieb Mitglied Erich Heckel in seinem Tagebuch.
Wenn auch die inhaltliche Programmatik der Gruppe eher kursorisch blieb, verpflichteten sich die Mitglieder, einen gemeinsamen Malstil zu pflegen. Wie Heckel und Schmidt-Rottluff malten auch Ernst Ludwig Kirchner und Fritz Bleyl in einem ausdrucksstarken, reduzierten Stil, der von Van Gogh und Edvard Munch beeinflusst war; auch Künstler wie Max Pechstein, Otto Mueller und Emil Nolde, die kurzzeitig zur Gruppe gehörten, schufen grell-farbige Gemälde mit kräftigem Farbeinsatz und starken Kontrasten und bevorzugten vereinfachte und bewusst grobe Formen ohne feine Details, die oft an Holzschnitte erinnern.
Der Stil wurde zu einer Art Markenzeichen, das sicher zur Beliebtheit der Gruppe, die bis 1911 bestand, beitrug. Die „Brücke“ ist nicht nur eine Keimzelle des deutschen Expressionismus und eine wichtige Position beim Entstehen einer deutschen Moderne, sondern auch ein Publikumsliebling; ihre Bilder wurden in endlosen Katalogen und Bildbänden, Postkarten, Postern und Kalendern reproduziert.
Die kleine Federzeichnung, die Schmidt-Rottluff zur Gründung anfertigte, ist im Vergleich zu den bekannten Werken der Gruppe erstaunlich reduziert. Mit einigen wenigen Strichen werden zwei Brückenbögen skizziert und der „Zusammenschluss zur Künstlergruppe Brücke“ bekanntgegeben. Das Blatt hängt nun am Anfang einer Ausstellung des Brücke-Museums zum 120-jährigen Jubiläum dieses Ereignisses. Und für die hat nicht die Leitung des Hauses, sondern das Publikum eine Auswahl aus der Sammlung des Museums getroffen. 120 eng gehängte Werke geben so einen Überblick über deren Vielseitigkeit, neben jedem Exponat findet sich eine kurze Begründung.
Kai Wegner hat eine wild bekleckste Tuschezeichnung einer Berliner Straßenecke von Ernst Ludwig Kirchner von 1915 ausgewählt, weil die für ihn „in genialer Weise mit wenigen Pinselstrichen die Stimmung und Dynamik der Großstadt“ festhalte. Auch wenn das Bild tatsächlich mit der Feder gezeichnet wurde – hier muss man dem Regierenden Bürgermeister trotzdem uneingeschränkt recht geben.
Einen Gymnasiasten erinnert ein Landschaftsbild von Max Pechstein an das Online-Game „Fortnite“, was bei ihm „OG Vibes“ auslöse. Ein Dogwalker erkennt in Schmidt-Rottluffs „Entwurzelten Bäumen“ (1934) die Farbe des Grunewalds wieder. Grünen-Politikerin Claudia Roth hat das Selbstporträt von Erich Heckel ausgesucht, das Iggy Pop auf dem Cover seiner LP „The Idiot“ nachstellt. Und der Schauspieler Alexander Scheer entschied sich für Otto Muellers „Liebespaar zwischen Gartenmauern“ (1916), auf das David Bowie in seinem Song „Heroes“ Bezug zu nehmen scheint.
Die kurzen Beschreibungen und die Wahrnehmungen der vielen verschiedenen Gastkuratoren erlauben einen anderen Blick auch auf Arbeiten, mit denen man sonst vielleicht nichts anfangen könnte. Manche Texte könnten allerdings auch von der Referentin verfasst worden sein. Die Empfindungstiefe, mit der Ex-Kultursenator Joe Chialo eine musikalische Szene kommentiert, traut man ihm irgendwie nicht zu.
Gleichzeitig sind dank des originellen Ausstellungskonzepts Exponate in die Ausstellung gekommen, die nicht unbedingt zum „Brücke“-Kanon gehören, zum Beispiel Ernst Ludwig Kirchners selbst geschnitzter Stuhl von 1920 oder das Türschild von Karl Schmidt-Rottluffs Berliner Wohnung, das überhaupt noch nie gezeigt wurde. Die Ausstellung ist darum eine anregende Angelegenheit, mit der man im stillen Dialog mit anderen Kunstbetrachtern viel Zeit verbringen kann – einerseits.
Andererseits zeigt die Ausstellung leider auch, für welche Bubble in Berlin Kultur gemacht wird. Ein repräsentativer Bevölkerungsdurchschnitt ist es nicht, der hier Kunst auswählen durfte. Zwar haben auch ein Sicherheitsmann und eine Briefträgerin Lieblingswerke ausgesucht. Aber es überwiegt ein Soziotop aus Kulturbetriebsnudeln, Kunstszenegestalten, gehobener Bourgeoisie – obwohl Museen mit den Steuern der gesamten Bevölkerung finanziert werden.
So beweist die Ausstellung unfreiwillig, dass viele Berliner Kunstinstitutionen große Teile der Berliner Stadtgesellschaft offenbar schlicht nicht auf dem Schirm haben. Vor zwei Jahren hat eine Studie zur kulturellen Teilhabe im Auftrag des Senats gezeigt, dass die Berliner Museen sich in erster Linie an die Gebildeten, Wohlhabenden und Alten richten. Und in der Tat haben bei einem Besuch der Ausstellung an einem Sonntag gut gekleidete, bildungsbürgerliche Boomer und noch Ältere das Museum mehr oder weniger für sich allein.
„120 Jahre Brücke. 120 Berliner*innen. 120 Werke“, Brücke-Museum, bis 22. Juni
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