: Was Aufklärung verspricht
Angesichts neuer Kriege und Konflikte findet das Fernsehen selten zu reflektierten Bildern. Wie steht es dagegen um den Dokumentarfilm? Entzieht er sich der Evidenz des Skandalösen? Eine Vorschau auf das Festival Visions du Réel in Nyon
von VERONIKA RALL
Selten ist so viel über den Stellenwert von Bildern geredet und geschrieben worden wie in den letzten Wochen. Berichte über die Kriegsberichterstattung vereinnahmten die Medienseiten jeder Zeitung, jedes Feuilleton brachte Reflexionen von namhaften Kritikern und Kritikerinnen über die Obszönität, die sich in den Bildern des Fernsehens unverhohlen breit machte – dem Konjunktiv, den die Bilderproduzenten selbst im Kommentar über die Berichterstattung legten, zum Trotz. Dass weder der zweifelnde Ton der BildervermittlerInnen noch der kritische Impuls des Publikums selbst irgendwen davon abhielten und abhalten, sich im selben Atemzug an den Bildern aufzugeilen, beobachtete Georg Seeßlen an der Dramaturgie der Kriegs-Fernsehabende, die seiner Ansicht nach die der Sportberichterstattung kopiert: „Sie führt von der ‚objektiven' Nachricht über die kritische Reflexion der eigenen Bilder bis zur Konstruktion von Teilhabe schließlich zu militärischem Empörungssex, bevor man zum eigentlichen Militainment gelangt, der allmählichen Wandlung der schrecklichen Bilder, Pflichtübungen in Betroffenheit, bis man, oft mit den allgegenwärtigen Generälen und Wehrexperten, bei einer offenen Form von Warnography landet.“ (Siehe taz vom 2. 4. 2003.)
Ein Filmfestival, das sich Visions du Réel nennt, hat es schwer, sich gegen diese Masse an „dummen Bildern“ (Harun Farocki) zu wehren, zumal auch sein Material, seine Filme, immer häufiger reine TV-Auftragsproduktionen sind. Doch der „körperlichen Gegenwärtigkeit“ der allabendlichen Berichterstattung (Seeßlen) setzen Dokumentarfilme die zeitliche Verzögerung entgegen, auch wenn die Produktion auf digitalen Trägern diese Zeitspanne immer weiter verknappt. Kein einziger Film des Schweizer Festivals wird den gegenwärtigen Krieg am Golf thematisieren. Die Filmemacher und -macherinnen interessieren sich eher umgekehrt für die Folgen der anderen, neuen Kriege, egal ob sie gegen den Terrorismus oder unter der Bevölkerung selbst geführt werden. So etwa der Niederländer Jos de Putter, der in „Dans, Grosny Dans“ eine tschetschenische Kindertanztruppe auf ihrer Tournee durch Osteuropa begleitet. Heute, so erzählt der Leiter der Truppe, nähmen sie jedes Kind in ihre Gemeinschaft auf, allein schon, um es von der Straße zu holen. Doch was einerseits der „psychologischen Rehabilitierung“ der Kinder dient, soll zugleich als Aushängeschild einer Nation funktionieren, die gerade im ehemaligen Ostblock als ein Haufen von Terroristen gilt.
Von einer anderen Bedrohung durch den Terror berichtet die israelisch-kalifornische Filmemacherin Michal Aviad, die jeden Morgen ihre Kinder in Tel Aviv zur Schule schickt – in der Hoffnung, sie am Abend wohlbehalten wiederzusehen. Dabei ist „For my Children“ keine einseitige Anklage, sondern eine subjektive Geschichtsschreibung: Der Film berichtet von einem Großvater, der aus Ungarn vor den Nazis geflohen war, von einer italienischen Großmutter, die in Griechenland geboren wurde, von einer Ankunft in einem Kibbuz, später von einer Familie, die mehrmals von Kalifornien nach Israel und umgekehrt umzieht. „For my Children“ funktioniert wie ein Homemovie: Die alten Menschen erkennen sich selbst und andere auf historischen Aufnahmen, die Kinder sind nicht nur von der Sorge der Mutter, sondern auch von der ständigen Anwesenheit ihrer Filmkamera genervt. Dabei übersetzt sich eine Nähe ins Bild, die sich nicht nur gegen die zerrissene Familiengeschichte, sondern auch gegen das Selbstverständliche des alltäglichen Terrors wehrt.
Die Vermeidung „dummer Bilder“ produziert nicht notwendig intelligente. Angesichts der Bilder vom Krieg schrieb Georg Seeßlen von der „Militarisierung der Wahrnehmung unter der Maske der Kriegsgegnerschaft“. Ähnlich verhält es sich mit dem Voyeurismus, der sich unter dem Schleier der Betroffenheit versteckt, dem insbesondere der digital produzierte Dokumentarfilm heute nur selten eine ästhetische oder politische Strategie entgegensetzt. Manchmal sprechen die Filme selbst von ihrer Unsicherheit, so etwa die schweizerisch-deutsche Koproduktion „Tarifa Traffic“ von Joakim Demmer, der von den Flüchtlingen berichtet, die die Meerenge zwischen der Ersten und der Dritten Welt bei Gibraltar zu überqueren versuchen.
Er will sie nicht zeigen, die Toten und Verstümmelten, die dort tagtäglich an den Strand gespült werden, doch nach einem anfänglich seltsam bilderlosen Film (reihenweise werden Interviews in engen Autos geführt) gibt Demmer der Versuchung nach. Als ihm wie zufällig am helllichten Tag ein völlig überbesetztes ankommendes Flüchtlingsboot vor die Linse gerät, ist es vorbei mit der Zurückhaltung: Die Menschen, die sich kaum wehren können, werden vorgeführt.
Ähnlich eine andere deutsche Produktion, „Die Kinder sind tot“ von Aelrun Goette, die einen Fall recherchiert, der die Schlagzeilen deutscher Zeitungen beschäftigte. Eine Mutter hatte zwei ihrer Kinder (sie waren zwei und drei Jahre alt) zwei Wochen alleine in einer Wohnung gelassen, die beiden Jungen verdursteten qualvoll vor den Augen und Ohren der Nachbarn. Zunächst enthält sich der Film jedes Voyeurismus, doch dann arbeitet die stringente Dramaturgie des Films auf die Bilder der verwüsteten, verwahrlosten Wohnung, die Beschreibung der kleinen toten Körper zu. Und was Aufklärung und Einsicht verspricht, versteckt sich erneut hinter der Evidenz des Skandalösen und Authentischen. Sie habe Zeit gebraucht, um überhaupt über das Geschehen sprechen zu können, sagt die Mutter, heute im Gefängnis, des zweifachen Mordes verurteilt. Um dann doch lieber zu schweigen vor dieser Filmkamera.
So hat der Film keine Chance gegen das Fernsehen, er wird allemal Teil der allumfassenden Berichterstattung. In Nyon sollen sie sich nun treffen, die Fernsehredakteure und -redakteurinnen europäischer Sendeanstalten, in deren Hand Einkauf und Kommission von Dokumentarfilmen liegen, und die unabhängige Produzentenschaft. Thema eins: „Die Rolle und der Stellenwert des künstlerischen und unabhängigen Dokumentarfilmschaffens innerhalb der Fernsehanstalten“. Thema zwei: „Strategien zur Erhaltung des kreativen Dokumentarfilms“. Offensichtlich hat das eine mit dem anderen viel zu tun.
Internationales Filmfestival Visions du Réel: 28. April bis 4. Mai in Nyon