■ Warum ist die Vorstellung von einem kriminellen Ausländer so schwer zu ertragen? Zur Debatte nach Lübeck: Liebe für das Gute an sich
Es war schon wirklich seltsam, und unsere Kritiker hatten nicht unrecht: Tagelang lasen sich die taz-Reportagen aus Lübeck und die Kommentare zu den Ereignissen, als operierten wir abgekoppelt von der Nachrichtenlage. Statt einer Reportage über die Differenzen unter den Heimbewohnern (Geht es da um Eifersucht, um Rassismus, um religiöse Differenzen zwischen Muslimen und Anhängern animistischer Religionen?) hieß unser Tagesthema „Wir sind alle Lübecker“ und beschäftigte sich mit der Frage, wie in Zukunft Brandanschläge verhindert werden können – obwohl doch längst widerlegt war, daß es sich um einen externen Anschlag gehandelt hat. Man hätte sich auch eine Reportage vorstellen können, die den Gegensatz der beiden Modelle Sammelunterkunft oder Einzelwohnung beschreibt: Welche Vorstellungen verbinden sich bei Flüchtlingen mit diesen Wohnformen, welche bei den Nachbarn? Statt dessen hieß die Titelschlagzeile „Unter Deutsche statt ins Ghetto“, und das Ereignis hieß „Mordbrand“, womit sich der Kreis zum Ewiggestrigen, zu Kristallnacht, Warschauer Ghetto und Auschwitz wieder schloß.
In den taz-Kommentaren sowohl von Christian Semler als auch von dem Aachener Psychoanalytiker Micha Hilgers gelang, was man eigentlich für semantisch unmöglich halten sollte: Irgendwie haben es beide geschafft herauszufinden, wie wir auch dann noch schuld sind, wenn wir wirklich nicht schuld sind. Während es Semler noch bei der Form der Unterbringung beließ, ging Hilgers sehr viel weiter: Schuld ist auch, wer „die behutsame Annäherung an schwierige Menschen, die oft zunächst entlastet, nicht selten aber psychisch krank oder einfach kriminell sind“, vernachlässigt. Warum ist die Vorstellung von einem schlicht und ergreifend kriminellen Ausländer, der schlicht und ergreifend demselben Regelwerk ausgesetzt wird wie ein deutscher Krimineller, so schwer zu ertragen? Hängt es, wie Konrad Adam in der FAZ vom 26. 1. vermutet, noch immer damit zusammen, daß wir „ein Volk der Täter sind“, das es nicht erwarten könne, „noch einmal getreten zu werden“?
Ausländer, die vor Repression oder Armut aus ihrer Heimat fliehen, rufen hier wohl die verschiedensten Gefühle wach. Zum einen – und gegen diesen Impuls ist nichts einzuwenden – erinnern sie wohl tatsächlich an die Verfolgten des Naziregimes, an deren Lage das Asylrecht der Bundesrepublik ursprünglich modelliert war. Zum andern sind sie aber auch die Verkörperung bestimmter links-franziskanischer Armutsideale – noch immer lebt die Mär, wir seien auf ihre Kosten reich –, ihre politischen Überzeugungen rücken jenseits der Kritisierbarkeit, weil sie oft ihr leibliches Wohl, ihre Berufe, ihr Leben für diese Überzeugungen aufs Spiel gesetzt haben. Und als Tiefenschicht finden sich wohl auch Rückstände des Glaubens an den schönen Wilden, der noch nicht von Zivilisation und Kühlschrankbesitz korrumpiert ist.
Jedenfalls – und das spricht aus Hilgers Artikel in haarsträubender Deutlichkeit – Staatsbürger oder potentielle Staatsbürger sind sie in dieser kollektiven Imagination noch nicht. „Asylbewerber“, so schreibt er, „können keine pflegeleichten künftigen Mitbürger sein. Dies ist nicht unbedingt ihre Schuld. Eher ihr Schicksal. Und das unsere – jedenfalls solange wir uns überhaupt noch ein Asylrecht vor unserem Gewissen leisten.“ Dieselbe Pirouette, die alle Schuld auf sich reißt, nimmt in der nächsten Umdrehung auch die Allmacht der Erlösung an sich – und hat dabei dem eigenen Berufsstand noch eben eine ubiquitäre Notwendigkeit verschafft: „Es braucht Sozialarbeiter vor Ort ... Humane Asylgesetzgebung ist mehr als bloß die Bereitstellung von ein paar Quadratmetern Wohnraum und einem Schwung Gutscheine.“
Hier tritt das zutage, was der Schriftsteller Jürgen Manthei den „deutschen Sonderweg“ nennt: Man äußert sich leicht verächtlich über die materielle Seite der ganzen Angelegenheit und verlangt von allen Beteiligten eine tiefe, innere Identifikation mit dem Wahren und Guten, eine porentiefe Reinheit. Und bist du nicht willig, so brauch ich Therapie. Die Ausländer brauchen sie, weil sie traumatisiert sind, die Deutschen brauchen sie, weil sie noch immer Täter sind. Pragmatismus ist dieser Haltung zutiefst suspekt, Pragmatismus (womöglich amerikanischen Zuschnitts) – das lappt ins Kalte, Herzlose, wenn nicht gar ins Faschistische. Oder wie sonst ist es zu erklären, daß ein Bürgermeister sagen kann: „Ich will diesen Staat nicht.“ Diesen Staat, der hier ja wohl nicht gezündelt hat, (selbst wenn es Nazis gewesen wären), sondern eben halbwegs brauchbare Unterkünfte zur Verfügung stellte, der nun fieberhaft nach neuen Lösungen sucht und von dem Herr Bouteiller übrigens doch wohl ein Teil ist.
Konrad Adam greift in seinem FAZ-Artikel allerdings zu kurz, wenn er diesen „deutschen Sonderweg“ auf die Geschichte des „Tätervolks“ zurückführt, das nach Auschwitz nicht gelernt hat, sich klein zu machen wie der Wurm, um weiteres Getretenwerden zu vermeiden. Wo diese Büßer-und Allmachtstraditionen herkommen, läßt sich eher hinter Robert Leichts Bemerkung „Manchmal ist Irren wirklich menschlicher“ im Leitartikel der letzten Zeit erkennen: Eben gerade nicht aus den Erfahrungen der Geschichte (die können diesen Traditionen gar nichts anhaben), sondern aus einer protestantischen, in der Aufklärung und ihren Erziehungsvorstellungen fortgesetzten Haltung, der es, wie Fichte schrieb, um die „Liebe für das Gute schlechtweg als solches und nicht etwa um seiner Nützlichkeit willen“ ging. „Wir sind daher“, so Fichte weiter, „sogar durch die Not gedrungen, innerlich und im Grunde gute Menschen bilden zu wollen, indem nur in solchen die deutsche Nation fortdauern kann, durch schlechte aber notwendig mit dem Auslande zusammenfließt“.
Ein Gesetz reicht nicht, es muß ein kategorischer Imperativ sein. So schreibt Robert Leicht, der sich von der FAZ nun auch schon als „Sendbote des Betroffenheitskults“ attackiert sieht, abschließend: „Aber wenn die Republik ihren humanen (und vernünftigen) Geist unter Beweis stellt, isoliert sie ihre Gegner, stärkt sie wenigstens ihr eigenes Gewissen – wenn sie schon das der Menschenfeinde nicht erreicht.“ Reicht die Vernunft nicht aus, muß es immer gleich der ganze Geist sein? Werden wir nicht mit unseren Gegnern leben müssen, statt sie zu isolieren? Haben wir es nicht ein bißchen kleiner? Mariam Niroumand
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