Wahlkampfaktion: Aus Jute wird Baumwolle
Cem Özdemir, Bundeschef der Grünen, wirbt am Maybachufer für Stoffbeutel statt Plastiktüten. Die Händler freuen sich. Nur mit der Nachhaltigkeit klappt es noch nicht.
Es gibt sie noch, die guten Dinge. Selbst im Wahlkampf der Grünen. Und Cem Özdemir packt sie aus: "Eine Originaltasche aus den 80ern" hält der Bundesvorsitzende der Ökopartei kurz hoch. "Jute statt Plastik" steht da drauf. Dann packt er das gute Stück schnell wieder weg. Er hat es sich von seiner Mutter geborgt, die nutze es heute noch. Die Kampagne damals gegen Plastiktüten habe ihn geprägt, sagt Özdemir. Noch immer gehe es ihm darum, dass kein Rohstoff, kein Öl für Tüten vergeudet werde. Und deshalb steht er nun hier am Maybachufer in Neukölln.
"Plastik? Nein danke", fordert ein Plakat hinter Özdemir. Und: "Plastik? Hayir teekürler!" Schließlich ist hier der sogenannte Türkenmarkt. Und: "Plastico? No gracias! Plastic? No thanks!", wegen der Touristen. "Normalerweise", sagt Özdemir, würden ja Themen für den Wahlkampf missbraucht. Er erlaube sich nun, es mal andersrum zu machen: "Ich missbrauche den Wahlkampf in Berlin für ein Thema." Özdemir begrüßt "den Dirk, den Turgut und die Anja", die Direktkandidaten seiner Partei in den umliegenden Wahlkreisen. Dann schimpft er über die Plastiktüten, die 100 Jahre brauchten, um sich zu zersetzen. Über 500 Tonnen Kunststoffkleinteile, die jetzt schon im Mittelmeer schwimmen. Über die Europäer, die im Schnitt 500 Tüten pro Jahr verbrauchten.
Özdemir versucht, urgrüne Forderungen aktuell zu präsentieren, statt von ihnen abzurücken. Die Beutel, die sein Team mitgebracht hat, sind nicht mehr aus kratziger Jute, sondern aus Biobaumwolle. Die Sprüche darauf sind nicht appellativ wie in der Hochzeit des Ökostricks, sondern zeitgemäß ironisch. "Plastic enemy" ist auf einen Beutel gedruckt. "Geiler Sack" auf einen anderen. Die Menschen sollen Stofftaschen cool finden, sagt Özdemir. Dann stürzt er sich in das Marktgeschehen.
"Hast du den gesehen?", ruft der Bürstenhändler. "Wen?", fragt der Kinderklamottenverkäufer. "Den Politiker! Der ist im Parlament!", erklärt der Bürstenmann. "Hä?", fragt noch mal der Klamottentyp. "Mann, den kennt man aus dem Fernsehen", stöhnt der Erste. "Ich hab keinen Fernseher", meint der andere.
Die meisten aber haben wohl einen. Der Marktbesuch ist ein Heimspiel für Özdemir. Schon weil er "ein Landsmann ist", wie ein Händler betont. Auch weil er gleich um die Ecke wohnt. "Seine Frau ist seit Jahren Kundin bei uns", sagt ein Gemüseverkäufer. "Ich wusste nur bis gerade nicht, dass sie Özdemirs Frau ist." Und es gibt noch einen Grund, warum Cem Özdemir hier so gut ankommt. Er ist nicht Thilo Sarrazin. Der Exfinanzsenator mit den kruden Thesen zur Migrationspolitik hatte vor zwei Wochen den Markt besucht. Mit einem Fernsehteam. "Der hier", sagt ein junger Händler und zeigt auf Özdemir, "ist mir tausendmal lieber".
Das TV-Team sei so lange auf dem Markt rumgelaufen, bis endlich die gewünschten Bilder mit erbosten Menschen im Kasten waren, ärgert sich Özdemir. Bei ihm geht das schneller. Schon am ersten Stand bekommen die Fotografen das gewünschte Motiv. Der Politiker, ein Händler, dazwischen ein Stoffbeutel mit dem dicken grünen "No" darauf.
Özdemir nimmt sich Zeit, an fast jedem Stand. Die Händler nehmen seine Tüten und Flugblätter gern. Der Erste hängt sich gar den "No"-Beutel um den Hals. "Atomstrom? Nein danke! Plastik? Nein danke!", singt er mehrfach vor sich hin. Dann packt er einem Kunden frische Minze in einen Plastikbeutel.
Das mit der Nachhaltigkeit klappt noch nicht so richtig. "Wir geben die Tüten umsonst", erklärt ein streng kalkulierender Gemüseverkäufer. Rund 1 Cent zahle er pro Plastikbeutel. Die Papiertüten, die die Grünen ebenfalls verteilen, kosten mindestens 6 Cent. Und bei Regen, klagt ein anderer, reiße Papier sofort.
Immerhin, nachdem Özdemir den Markt durchquert hat, sind alle Tüten und Beutel längst vergeben. An vielen Ständen hängt nun zudem die Bitte an die Kunden, Stofftaschen von zu Hause mitzubringen. Ein Appell allerdings, der die Mehrheit der Marktkunden kaum irritieren dürfte. Die meisten sind ohnehin mit Stofftaschen hier. Beutel von den Grünen brauche sie nicht, erklärt eine ältere Dame: "Ich hab noch zwei von der Sparkasse." Das Gemüse lasse sie sich dennoch extra in Plastik einpacken. "Sonst matscht mir das doch alles im Beutel zusammen."
"Das geht alles nicht von heute auf morgen", sagt eine Mitarbeiterin von Özdemir. "Jute statt Plastik" liegt zwar schon 30 Jahre zurück, aber das mit der Atomkraft hat ja auch ein wenig gedauert.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Anschlag in Magdeburg
Vorsicht mit psychopathologischen Deutungen
Kochen für die Familie
Gegessen wird, was auf den Tisch kommt
Angriffe auf Neonazis in Budapest
Ungarn liefert weiteres Mitglied um Lina E. aus
Insolventer Flugtaxi-Entwickler
Lilium findet doch noch Käufer
Polizeigewalt gegen Geflüchtete
An der Hamburger Hafenkante sitzt die Dienstwaffe locker
Im Gespräch Gretchen Dutschke-Klotz
„Jesus hat wirklich sozialistische Sachen gesagt“