Wahlkampf 98: Einzelbewerber: „Ich bin der Feinkostladen in der Politik“
■ Zehn Einzelbewerber wollen als unabhängige Direktkandidaten in den Bundestag: Josef Lange aus dem Wahlkreis Köpenick/Treptow verspricht Politik aus dem Bauch heraus
Nein, in eine Partei wird Josef Lange nie wieder eintreten. Hatte er sich bis wenige Wochen vor dem Zusammenbruch der DDR beharrlich einer Parteizugehörigkeit verweigert, trat der gelernte Chemiefacharbeiter im Oktober 1989 der Ost-SPD, der Sozialdemokratischen Partei in der DDR, bei, die sich 1990 mit der West-SPD zusammenschloß. Er machte Parteiarbeit, saß sogar in der Bezirksverordnetenversammlung in Köpenick. Doch als er merkte, daß aus der Wendepartei „über Nacht eine Altpartei“ geworden war, trat er aus. „Parteien sind wie ein großer Fluß“, sagt er, „man kann nur mit dem Strom schwimmen.“ Also stieg er sodann bei Abgeordnetenhaus- und Kommunalwahlen allein ins Wasser. Seine Zielgruppe sind Leute, die nicht wählen wollen. „Ich bin der Feinkost
laden in der Politik“, sagt er selbstbewußt. Lange glaubt, im Bundestag als „parteifreie“ Stimme besonders gute Karten zu haben. „Ich bin an kein Programm gebunden“, so seine Begründung, „ich kann aus dem Bauch heraus stimmen.“ Eine Aussage, die angesichts seines beträchtlichen Leibesumfangs glaubwürdig wirkt. Als weiteren „Vorteil“ gegenüber etablierten Politikern führt er seine Ehe an, die er seit 25 Jahren „mit derselben Frau“ führt. Lange, der sich als „Außenseiter aus der Industrie“ bezeichnet, hat die Parteienpolitiker satt. „Müssen die Krawatten tragen, die soviel wie zwei Sozialhilfeempfänger in drei Monaten kosten?!“ fragt er empört. Eine Gefahr, die bei ihm nicht besteht. Unter seinem riesigen Bart verschwände jeder Binder.
Um „Randgruppen“ hat sich Lange schon zu DDR-Zeiten gekümmert. Seit einigen Jahren ist er Leiter des Vereins „Fünftes Rad e.V.“, eines psychosozialen Projekts in Köpenick. Er selbst weiß, wie es ist, krank zu sein und wenig Geld zu haben. Seit einem Jahr ist er krank geschrieben und muß mit 80 Prozent seines Gehalts auskommen. Weil die Probleme mit dem Rücken wohl in nächster Zeit nicht verschwinden werden, konzentriert sich Lange auf die Politik. Sie ist für ihn Hobby, Ausgleich und Berufung. Trotzdem sieht er seine Kandidatur „nicht so verbissen“. Jedes Ergebnis „mit einer Zahl größer als null vor dem Komma“ ist für ihn eine „politische Legitimation im Kiez“.
Lange weiß noch nicht, wie er den 27. September verbringen wird. Den Fernseher wird er auf keinen Fall anschalten. Wenn es an der Tür klingelt, wird er aufmachen. „Dann weiß ich, ich bin im Bundestag“, sagt er. Barbara Bollwahn
wird fortgesetzt
40.000 mal Danke!
40.000 Menschen beteiligen sich bei taz zahl ich – weil unabhängiger, kritischer Journalismus in diesen Zeiten gebraucht wird. Weil es die taz braucht. Dafür möchten wir uns herzlich bedanken! Ihre Solidarität sorgt dafür, dass taz.de für alle frei zugänglich bleibt. Denn wir verstehen Journalismus nicht nur als Ware, sondern als öffentliches Gut. Was uns besonders macht? Sie, unsere Leser*innen. Sie wissen: Zahlen muss niemand, aber guter Journalismus hat seinen Preis. Und immer mehr machen mit und entscheiden sich für eine freiwillige Unterstützung der taz! Dieser Schub trägt uns gemeinsam in die Zukunft. Wir suchen auch weiterhin Unterstützung: suchen wir auch weiterhin Ihre Unterstützung. Setzen auch Sie jetzt ein Zeichen für kritischen Journalismus – schon mit 5 Euro im Monat! Jetzt unterstützen