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Wahlgesetz vor der Verabschiedung

Die Volkskammer der DDR beschloß auf ihrer Tagung am Montag in erster Lesung ein neues Wahlgesetz, das auch den Ansprüchen der Opposition gerecht wird, in wesentlichen Punkten sogar ihre Handschrift trägt. In einer Gastrede vor dem Parlament erinnerte als Vertreter des runden Tisches Wolfgang Ullmann, einer der Sprecher der Bürgerbewegung „Demokratie jetzt“, daran, daß von der Opposition am 4.Oktober ein Minimalkatalog für „freie Wahlen“ formuliert worden war.

Die damaligen Bedingungen seien mit dem neuen Gesetz erfüllt. Zuvor hatte Paul Eberle (LDPD) das Gesetz vorgestellt. Kaum hatte der Redner zu Beginn darauf hingewiesen, die ursprünglich geplante Aussprache mit den Bürgern könne wegen der Wahlvorverlegung auf den 18.März aus Termingründen nicht stattfinden, erhob sich Protestgemurmel: So vorschnell wollten sich die Abgeordneten ihr Recht, den Wahltermin festzulegen, nicht aus der Hand nehmen lassen.

Der vorliegende Gesetzentwurf, so Ausschußvorsitzender Eberle, „geht konsequent vom Wähler aus“. Im Vorfeld gab es um diesen Punkt heftige Auseinandersetzungen zwischen den Vertretern der etablierten ebenso wie der neuen Parteien auf der einen Seite und den Vertretern von Bürgerrechtsorganisationen (denen sich die SED-PDS vorsichtig anschloß) auf der anderen Seite.

Gestritten wurde über die Frage, was das wichtigste Kriterium bei der Formulierung eines Wahlgesetzes zu sein habe: die Schaffung einer „stabilen Regierung“, wie das etwa der SPD-Vertreter Meckel am runden Tisch postulierte, oder so der Experte des Unabhängigen Frauenverbandes, Hans-Jürgen Will - ein möglichst breites Spektrum der unter den Wählern vertretenen politischen Positionen.

Das jetzt in erster Lesung verabschiedete Gesetz gibt letzterem den Vorrang. An der Volkskammerwahl können sich jetzt nicht nur Parteien beteiligen, sondern auch andere politische Vereinigungen. Danach sind Organisationen wie das Neue Forum nicht gezwungen, sich entweder zur Partei zu erklären oder auf eine Teilnahme an der Wahl zu verzichten.

Ullmann trug jedoch zu diesem Punkt eine Erklärung des runden Tisches vor, in der eine andere Formulierung vorgeschlagen wird: Nur Parteien sollen wählbar sein, doch soll der Parteibegriff zugleich so erweitert werden, daß auch Organisationen darunter fallen, die eine straffe Parteistruktur und -programmatik ablehnen.

Eine „Partei“ wäre danach jede „Vereinigung von Bürgern, die dauernd oder für längere Zeit an der politischen Willensbildung mitwirken“ und in der Volkskammer vertreten sein will. Darüber wird jetzt in dem zuständigen Volkskammerausschuß beraten werden, ehe das Gesetz am 18.2. zur zweiten Lesung in die Volkskammer geht. Der Anspruch, ein möglichst getreues Abbild der politischen Vielfalt der Bevölkerung in der Volkskammer zu ermöglichen, zeigt sich auch darin, daß das Gesetz keinerlei Sperrklausel vorsieht. Eine 3-Prozent-Klausel war vom runden Tisch abgelehnt worden

Dennoch ließ Ausschußvorsitzender Eberle mit seinem Verweis darauf, daß bereits 20 Parteien und „eine große Zahl“ von Vereinigungen existieren, anklingen, daß man darüber noch einmal nachdenken müßte. Schließlich hat sich die Volkskammer bereits jetzt für ein reines Verhältniswahlrecht entschieden und ein als Alternative vorgeschlagenes Mischsystem aus Verhältnis- und Mehrheitswahlrecht verworfen. Kandidieren können also Parteien und politische Vereinigungen, die Listen aufstellen, über die die Wähler so entscheiden können, daß möglichst im Resultat keine Stimme verloren geht.

Allein solche Organisationen sollen von der Wahl ausgeschlossensein, die „Glaubens-, Rassen oder Völkerhaß bekunden, militaristische Propaganda oder Kriegshetze betreiben“. Der runde Tisch hat vorgeschlagen, darüber - da ein Verfassungsgericht noch fehlt - für die nächsten Wahlen ein 5-köpfiges Gremium zu bilden, dem je ein Verter aus Kirche, Wissenschaft und Kunst angehören soll, dazu „ein Arbeiter aus dem Süden“ und „ein Bauer aus dem Norden“ der Republik.

Walter Süß

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