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Wahlgesetz an Karlsruher Hürde gescheitertKarlsruhe stoppt Parteienkartell

■ Nach dem Spruch der Verfassungsrichter sind die Chancen der kleinen Parteien und Bürgerbewegungen für den Einzug ins erste gesamtdeutsche Parlament gestiegen. Spätestens am 16.Oktober muß ein neues Wahlgesetz vorliegen, das dann eine Sperrklausel — möglicherweise unter 5 Prozent — voraussichtlich in getrennten Wahlgebieten vorschreiben wird.

Jetzt plötzlich, wo der II. Senat des Bundesverfassungsgerichts den Wahlstrategen des herrschenden Parteienkartells mit der Kassierung des ausgehandelten Wahlrechtsvertrages eine schallende Ohrfeige verpaßt hat, will es keiner mehr gewesen sein. Ja, wie gut, daß wir in einem Rechtsstaat leben und ein allseits hochverehrtes Verfassungsgericht haben. Als wäre den Mehrheitsparteien ganz zufällig eine faire Gestaltung des Wahlgesetzes nicht eingefallen, sind jetzt selbstredend alle für die Chancengleichheit.

Kaum sonst irgendwo wie auf dem Gebiet des Wahlrechts zeigt sich so deutlich, wie sehr Mehrheiten „überwältigend“ sein können. Modifizierungen der Wahlgesetze haben stets weitreichende Auswirkungen auf die Struktur des Parteiengefüges eines Landes — und damit auf die Verteilung politischer Macht- und Einflußsphären. Sie legen die Chancen von Mehrheiten und Minderheiten fest. Bereits mit der Grundsatzfrage, ob nach Regeln der Mehrheits- oder Verhältniswahl abgestimmt wird, werden Weichen gestellt. Das Zweiparteiensystem von England oder den USA, in dem kleine Parteien so gut wie chancenlos sind, belegt dies deutlich.

In der Bundesrepublik wird nach dem Verhältniswahlrecht gewählt — allerdings fast von Anbeginn mit der Einschränkung der Fünf-Prozent- Sperrklausel. Mit diesem Wahlrecht konnten die etablierten Parteien bisher nahezu ungestört unter sich bleiben. Die Grünen sind die einzige Partei seit Kriegsende, die sich auf Dauer über der Fünfprozentmarke behaupten konnte.

Bis zum Herbst 1989 schienen die Macht- und Einflußsphären klar verteilt. Die Geschwindigkeit des Abbruchs der DDR und folgeweise die der deutschen Einigung hat indes auch die Wahlstrategen des herrschenden Parteienkartells überholt: Schon zu Beginn der Wahlrechtsdebatte vom letzten Sommer konnte man ungewohnte Fronten registrieren: Während Innenminister Schäuble und die CDU/CSU zunächst für getrennte Wahlgebiete und eine gesenkte Sperrklausel für die DDR eintraten (und sich natürlich nicht nur aus altruistischen Gründen für die Herbstrevolutionäre stark machten), waren SPD und FDP strikt für eine einheitliche Fünfprozentklausel.

Das Gericht hat den Wahlrechtsdeal der Etablierten in allen wesentlichen Punkten annulliert. Dabei ist es den Besonderheiten der ersten gesamtdeutschen Wahl mit — insoweit — überzeugenden Argumenten gerecht geworden. In der Frage der Listenverbindungen (also der bloß additiven Zählgemeinschaft verschiedener, als solche fortexistierender Listen) arbeitet der II. Senat heraus, daß diese Abschwächung der Sperrklausel keineswegs alle Parteien in gleicher Weise begünstigt. Angesichts der politischen Konstellationen und Parteifusionen kommt er zu dem Ergebnis, daß kaum noch realpolitische Kombinationsmöglichkeiten überhaupt denkbar sind. Auch wenn der Name DSU nicht fällt: Die „Lex DSU“ wird als Verstoß gegen die Chancengleichheit qualifiziert. Darüber hinaus hat der Senat Listenverbindungen generell als Verstoß gegen die Gleichheit gewertet, weil mit dieser Möglichkeit der lockeren Zählverbindung die gleichmäßige Abschwächung einer Sperrklausel nicht erreicht werden kann. Denn mit der Stimme für eine dieser Listen kann zugleich der Erfolg der mit ihr verbundenen (anderen) Liste erhöht werden.

Vor allem hat das Verfassungsgericht die Bildung eines einheitlichen Wahlgebietes in Kombination mit irgendeiner Sperrklausel, wie hoch diese auch konkret sein mag, für verfassungswidrig erklärt. Auf dem Hintergrund einer zutreffenden Situationsanalyse der DDR-Parteien wird dargelegt, daß die Erweiterung des Wahlgebiets die Gruppierungen der DDR wegen der unterschiedlichen organisatorischen Ausgangsbedingungen vor ungleich größere Probleme stellt als ihre westdeutschen Konkurrenten. Hier kommt das bekannte Rechenbeispiel zum Zuge, daß eine Partei für das Gebiet der DDR 23,75 Prozent der Stimmen erhalten müßte, um eine bundesweite Fünfprozenthürde zu überspringen, während vom Westen aus gesehen schon sechs ausreichten.

Diesen verschiedenen Ausgangsbedingungen kann man auch nicht durch eine Senkung der bundeseinheitlichen Sperrklausel gerecht werden, rechnet das Gericht vor: Während z.B. bei einer Sperrklausel von 1,2 Prozent für das Gebiet der DDR fünf Prozent erreicht werden müßten, genügten für das Gebiet der BRD 1,6 Prozent usf. Deshalb hat das Verfassungsgericht jede Sperrklausel in einem einheitlichen Wahlgebiet für unzulässig erklärt.

Eine korrekte Lösung sieht das Gericht in einer regionalisierten Sperrklausel. Diese muß auf jeden Fall in Ost und West in gleicher Höhe angesetzt werden. Um der Chancengleichheit voll Rechnung zu tragen, haben die Richter im übrigen einen Ausgleich für notwendig erachtet: Weil die dargelegten organisatorischen und politischen Schwierigkeiten der neuen DDR-Vereinigungen, die erst seit dem Herbst legal politisch tätig sein können, gegenüber den alten Blockparteien und den Westparteien zu Buche schlagen, muß ihnen die Möglichkeit der Listenvereinigung eingeräumt werden. Dabei handelt es sich im Gegensatz zur bloßen Zählgemeinschaft der Listenverbindungen um eine „verfestigte Form des Zusammenwirkens“, mit der kein Verstoß gegen die Wahlgleichheit vorliegt.

Der II. Senat ist mit seiner einstimmig ergangenen Entscheidung den Besonderheiten der ersten gesamtdeutschen Wahl auf überzeugende Weise gerecht geworden. Freilich sollte man nicht übersehen, daß man sich in Karlsruhe nicht dazu durchringen konnte, sich von einer seit 1952 verfestigten, fragwürdigen Rechtsprechung zu verabschieden, mit der in abstrakter Ordnungsrhetorik Durchbrechungen der Wahlgleichheit von bis zu 5 Prozent für zulässig erklärt worden sind. Das Gericht hat zwar en passant darauf hingewiesen, daß es dem Gesetzgeber freistehe, völlig auf eine Sperrklausel zu verzichten. Dieser — im Sinne radikaler demokratischer Gleichheit — konsequente Schritt darf allerdings von den „überwältigenden“ Mehrheiten des Deutschen Bundestages nicht erwartet werden. Horst Meier

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