Wahlergebnisse Afghanistan: Chaos und Zahlensalat in Kabul
Die Beschwerdekommission erklärt Teile der Wahlen vom August für ungültig, verrät aber nicht, ob Präsident Karsai im ersten Durchgang nun gewonnen hat oder nicht.
BERLIN taz | Die afghanische Wahlbeschwerdekommission ECC hat in der Hauptstadt Kabul das Ergebnis ihrer Untersuchungen mutmaßlicher Fälschungen der Präsidentenwahl vom 20. August veröffentlicht. Auf der Grundlage dieser Angaben muss die Unabhängige Wahlkommission IEC nun das Endergebnis bekannt geben. Wann das geschehen wird, war am Montag Nachmittag noch unklar.
Ebenso unklar war nach den Angaben der ECC, ob Amtsinhaber Hamid Karsai eine absolute Mehrheit behaupten kann oder ob ein zweiter Wahlgang notwendig wird. Nach dem letzten offiziellen vorläufigen Ergebnis vom 16. September lag Karsai bei 54,6 Prozent. Seit Ende letzter Woche aber mehren sich Berichte, wonach Karsai unter die 50-Prozent-Marke rutschen werde. Das haben die Washington Post und die BBC gemeldet.
Die Zahl der nach Ansicht der ECC wegen erwiesener Fälschungen ungültig zu machenden Stimmen geht aus den gestern auf ihre Webseite gestellten drei Listen nicht unmittelbar hervor. Die erste ECC-Liste enthält 345 Wahlstationen, von denen 253 als "gefälscht" ausgewiesen sind. Diese Liste kam aufgrund einer Stichprobe von zehn Prozent aller Wahlstationen zustande, nachdem Medien von massiven Fälschungen berichtet hatten. Zwei weitere Listen enthalten 210 beziehungsweise 135 zu annullierende Wahlstationen. Die sind das Ergebnis separater Untersuchungen von insgesamt 3.051 Beschwerden, die entweder während des Wahlkampfes, am Wahltag oder während der Auszählung bei der ECC oder ihren Provinzbüros eingegangen waren. Sie stammen von Kandidaten, ihren örtlichen Vertretern oder ganz einfach von besorgten Bürgern. 893 davon hat die ECC in ihre "Kategorie A" eingeordnet, weil sie das Wahlergebnis tatsächlich beeinflussen konnten.
"Wahlstation" ist in diesem Zusammenhang die Bezeichnung für einzelne Wahlurnen, von denen jeweils mehrere ein Wahlzentrum oder Wahllokal bilden. Landesweit gab es am 20. August 18.877 Wahlstationen in 6.969 Wahlzentren. Mindestens 700, möglicherweise bis zu 1.500 Wahlzentren wurden am 20. August nicht offiziell geöffnet, es wurden in ihnen allerdings offiziell Stimmen abgegeben. In ihnen fabrizierten Karsai-Anhänger vielerorts Karsai-Stimmen, die dann in die Auszählung eingespeist wurden. Die IEC legte bisher keine offizielle Liste über die geöffneten Wahllokale vor. Dies hat den Fälschungsverdacht verstärkt.
Schon der Nachweis von 150.000 gefälschten Stimmen würde Karsai unter 50 Prozent drücken. Von doppelt so vielen allein in Karsais Heimatprovinz Kandahar geht Peter Galbraith aus, während der Wahlen Vizechef der UN-Mission in Afghanistan, dann wegen Kritik am Schweigen seines Chefs Kai Eide zu dem Betrug gefeuert.
Klar ist, dass Karsai einen zweiten Wahlgang auf alle Fälle vermeiden will. Denn darin müsste er gegen seinen Hauptwidersacher Abdullah Abdullah, einen früheren Mudschaheddinführer und Exaußenminister, antreten. Der Ausgang wäre angesichts wackliger Allianzen alles andere als sicher. Bisherige Karsai-Unterstützer könnten sich neu orientieren. Karsai beschuldigte jetzt die Beschwerdekommission ECC, ein Werkzeug "ausländischer Einmischung" zu sein, und übt massiven Druck auf die von ihm ernannte Wahlkommission IEC aus.
Um einen Totalcrash des politischen Prozesses zu verhindern, versuchen hochrangige Politiker und Diplomaten zurzeit, Karsai entweder zum Akzeptieren des ECC-Verdikts oder zur Bildung einer Koalitionsregierung mit Abdullah zu bewegen. US-Senator John Kerry und Frankreichs Außenminister Bernard Kouchner waren dafür sogar nach Kabul gejettet. Doch solche Manöver werden die Glaubwürdigkeit der Wahlen und die Legitimität einer künftigen Regierung nicht wiederherstellen. Die Taliban werden sich die Hände reiben.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Israelische Drohnen in Gaza
Testlabor des Grauens
Proteste bei Nan Goldin
Logiken des Boykotts
Bundeskongress der Jusos
Was Scholz von Esken lernen kann
Rekrutierung im Krieg gegen Russland
Von der Straße weg
Bündnis Sahra Wagenknecht
Ein Bestsellerautor will in den Bundestag
Schwedens Energiepolitik
Blind für die Gefahren