piwik no script img

Wahlen in der TürkeiAus der Kantine ins Parlament

Remziye Tosun, Mutter von vier Kindern und Kantinenköchin, will für die HDP ins Parlament.

Remziye Tosun hofft, für die HDP ins Parlament zu ziehen Foto: Figen Güneş

Es ist früh am Morgen in Diyarbakır im Nordosten der Türkei, als sich die Parlamentskandidat*innen der prokurdischen HDP (Partei der Völker) in ihrer Parteizentrale treffen, bevor sie sich auf den Weg in die Stadtbezirke machen. Der Wahlkampf für die bevorstehenden Präsidentschafts- und Parlamentswahlen läuft auch Hochtouren und wird von Tür zu Tür ausgetragen. Die bescheidene HDP-Caféteria erinnert an eine triste Schulkantine.

Remziye Tosun setzt eine Kanne Tee auf und setzt sich an einen der Tische, auf dem eine Ausgabe der neu gegründeten Zeitung „Yeni Yaşam“ liegt. Noch vor wenigen Wochen stand sie hier als Köchin hinter dem Tresen der Kantine. Heute trägt sie ihre traditionell kurdische Tracht und bespricht sich mit den anderen HDP-Kandidat*innen. Für die HDP kandidiert sie für die Provinz Diyarbakır auf dem vierten Listenplatz.

Mit 18 Jahren zog Tosun nach ihrer Hochzeit aus ihrem Dorf in die nächstgrößere Stadt Diyarbakir und wohnte dort im historischen Stadtteil Sur. 2015 bei den bewaffneten Auseinandersetzungen zwischen der PKK und der türkischen Armee wurde das Viertel weitestgehend zerstört. Tosun verlor erst ihre Wohnung, und anschließend ihre Freiheit: sie musste für anderthalb Jahre ins Gefängnis.

Nach ihrer Freilassung fand sie Arbeit als Köchin in der HDP-Caféteria. An dem Tag, als der Hohe Wahlausschuss (YSK) die Kandidatenlisten bekannt gab, kochte sie gerade Suppe und Nudeln, erzählt sie lächelnd. „Meine Kollegen witzelten, sie wollten mir etwas mitteilen – aber ich solle erst noch den Salat zubereiten.“ Mit der Bestätigung ihrer Kandidatur kündigte sie ihren Job in der Caféteria.

Verhaftet wegen Beihilfe zum Terrorismus

Zu Beginn der bewaffneten Auseinandersetzungen vor drei Jahren lebte Tosun mit ihren vier Kindern in einer Erdgeschosswohnung im Fatih-Paşa-Viertel. Auch wenn viele Familien Sur verließen – sie blieb während der Kämpfe mit ihrer vor Ort und tat sich mit einer Nachbarsfamilie zusammen. Eine schwierige Zeit, geprägt vom täglichen Überlebenskampf. Besonders die Kinder litten unter den Umständen, da selbst das Verlassen des Hauses sehr gefährlich war.

„Als wir das erste Mal aus dem Haus gingen, wurde mein damals 14 Monate altes Baby ohnmächtig. Alle um mich herum schrien, das Kind sei tot“, so Tosun. Nach etlichen Gesprächen mit Abgeordneten wurden Sicherheitskorridore eingerichtet und auch sie machte sich mit ihrer Familie auf, um die Stadt zu verlassen – es war der 3. März 2016.

Noch am selben Tag wurde sie wegen Beihilfe zum Terrorismus festgenommen. „Für die Polizei sind Familien, die während der Auseinandersetzungen die Stadt nicht verlassen haben, Kollaborateure, “sagt Tosun. Vier Tage verbrachte sie mit ihrem Baby auf der Polizeiwache, bevor sie dann für anderthalb Jahre in Gefängnis musste. Traurig erzählt sie, dass man ihre anderen Kinder in dieser Zeit in ein Heim gebracht habe, bevor sie dann von einer Pflegefamilie aufgenommen wurden.

Ein Sprachrohr für Mütter

Die Bedingungen im Gefängnis seien sehr hart gewesen. Manchmal haben sie zu acht in zusammengelegten Hochbetten geschlafen. Auch litt ihre Tochter an den Folgen der bewaffneten Auseinandersetzungen, die sie als Baby miterlebt hat. „Jedes Mal, wenn sie das Geräusch eines Helikopters hörte, versteckte sie sich unter dem Bett“, erzählt Remziye Tosun.

Auch wenn Tosun nicht sagen kann, dass sie über das Erlebte hinweg ist, hilft ihr die Unterstützung, die sie und ihre Familie erfahren. Das Leben in der Partei sei sehr gemeinschaftlich und die Arbeit als Köchin haben sie sehr glücklich gemacht, so Remziye Tosun, die etwas aufgeregt wirkt. Immerhin sei das ihr erstes Interview. Wohl deshalb liest sie zwischendurch von einem Blatt Papier ab. Stolz erzählt sie von den Reaktionen ihrer Familie auf ihre Kandidatur. „Wir wurden unterdrückt, bleib du standhaft“, habe Tosuns Mutter gesagt.

Sie kommt auch auf Politisches zu sprechen. Mit der Einführung des Präsidialsystems habe das Parlament an Macht verloren: „Es ist keine wirkungsvolle Institution mehr, sondern nur noch Mittel zum Zweck“, so Tosun. Zu ihren politischen Zielen gehört es, die Interessen von Müttern zu vertreten und diese ins Parlament zu tragen. Vor allem von jenen, die bei den gewaltsamen Auseinandersetzungen in Sur ihre Kinder verloren haben.

Das Volk fragt nach Demirta ş

Auf die Frage, ob die HDP Wählerstimmen verlieren könnte, antwortet sie selbstbewusst, dass sich der Stimmanteil sogar vergrößern werde und ein großer Rückhalt in der Bevölkerung vorhanden sei: „Das Volk möchte, dass kein Blut mehr vergossen wird. Es möchte, dass wir ein Symbol für den Frieden setzen“.

Ihre erste Begegnung mit potenziellen Wähler*innen hat Tosun auf dem Stadteilmarkt Aşefçiler. Sie lädt Menschen zur Eröffnungsfeier des HDP-Wahlbüros ein, die noch am selben Abend stattfinden wird. Bei dieser Gelegenheit lässt sie sich in einer Schneiderei ein neues Kleid nähen und hängt, während sie wartet, ein Bild von Selahattin Demirtaş an der Geschäftswand auf.

Der verhaftete HDP-Präsidentschaftskandidat ist auf den Straßen von Diyarbakır Gesprächsthema Nummer eins. Alle fragen sich, wie es Demirtaş geht und wann er aus der Haft entlassen wird. Nach diversen Begegnungen auf den Straßen von Sur zieht Tosun daraus das Resümee, dass sie gewinnen werde.

„Ich kann das schaffen“, sagt sie zuversichtlich. Für den Fall, dass sie aufgrund von Repressionen ihr Mandat verlieren sollte, hat sie bereits einen Plan B: Sie geht zurück in ihren Job als Köchin.

Aus dem Türkischen von Cem Bozdoğan

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen

Mehr zum Thema

0 Kommentare

  • Noch keine Kommentare vorhanden.
    Starten Sie jetzt eine spannende Diskussion!