Wahlen in Schleswig-Holstein: Parlamentarier-Boom in Kiel?
Der Landtag könnte nach der Wahl am 27. September von 69 auf mehr als 100 Abgeordnete anwachsen. Der Grund wären die CDU-Überhangmandate, die den Umfragen zu Folge zu erwarten sind
"Nein, Klappstühle müssen wir nicht aufstellen", sagt Annette Wiese-Krukowska, Sprecherin des schleswig-holsteinischen Landtages. "Aber ein bisschen kuscheliger - sprich: enger - könnte es im Plenarsaal werden." Sogar deutlich enger, wenn die Szenarien eintreten, die Grüne und FDP vorhersehen: Dem nächsten Landtag, der am 27. September gewählt wird, könnten wesentlich mehr Abgeordnete angehören als dem heutigen. Schuld wären Überhang- und Ausgleichsmandate.
"Das könnte zu dramatischen Verzerrungen führen", sagt Karl-Martin Hentschel, Fraktionsvorsitzender der Grünen. "Vor allem aber ist den Bürgern nicht zu vermitteln, dass der Landtag vorzeitig aufgelöst wird, um dann größer zu werden."
Denn im Extremfall könnte die Zahl der Abgeordneten von zurzeit 69 auf über 100 ansteigen - was Zusatzausgaben in Millionenhöhe für die Landeskasse bedeuten würde. Der Fall tritt ein, wenn die CDU deutlich mehr Direktmandate erringt als die SPD, was angesichts der Umfrage wahrscheinlich ist. Bei der Landtagswahl 2005 erhielt die CDU 25 Direktmandate, die SPD 15. Verschiebt sich das Verhältnis nun weiter in Richtung Christdemokraten, treten Überhangmandate auf, die laut Landesrecht Ausgleichsmandate nach sich ziehen.
Überhangmandate entstehen, wenn eine Partei mehr Kandidaten über die Erststimmen, also direkt gewonnene Wahlkreise, ins Parlament entsendet, als ihr nach dem Ergebnis der Zweitstimmen prozentual zustehen.
Bei einem Ergebnis von - gemäß aktuellen Umfragen - 35 Prozent würden der CDU vermutlich 24 Mandate zustehen - weniger, als sie jetzt schon an Direktmandaten hat. Zu erwarten ist jedoch, dass die Union der SPD noch mehrere Wahlkreise abnimmt und mehr als 30 Direktmandate erringt.
Deshalb müssten Ausgleichsmandate auf die anderen Fraktionen verteilt werden, um die Sitze im Parlament entsprechend des prozentualen Ergebnisses der Zweitstimmen aufzustocken. Das Verfahren existiert nur in einigen Bundesländern.
Im Bundestag sind zwar Überhang-, aber keine Ausgleichsmandate vorgesehen. (est)
Allerdings ist unklar, wie viele es sein könnten: Seit der Kommunalwahl im Mai 2008 streiten sich Parteien und Juristen um die genaue Auslegung des Wahlgesetzes. Dort ist von "Mehrsitzen" und "weiteren Sitzen" die Rede; es geht um die Frage, was als Messgröße für die Berechnung der Ausgleichsmandate herangezogen wird. Das Innenministerium hatte im vergangenen Jahr erklärt, dass es höchstens ebenso viele Ausgleichs- wie Überhangmandate geben dürfe - andere Fachleute und Urteile gehen von der doppelten Anzahl aus. Die Prozesse sind noch nicht entschieden.
Da Kommunal- und Landeswahlrecht identisch formuliert sind, könnten Urteile zu den Ratsversammlungen in Kiel oder Norderstedt auf den Landtag durchschlagen, fürchtet Hentschel: "Damit wissen wir Ende September nicht, wer eigentlich gewonnen hat. Die Regierungsbildung könnte von Gerichten abhängen."
Er will daher versuchen, vor der Wahl eine freiwillige Übereinkunft aller Fraktionen zu erzielen, bei der eine Obergrenze und ein Verteilungssystem festgelegt werden. "Staatsbürgerliche Ratio sollte vor Parteiinteresse gehen", sagt er. Ganz uneigennützig ist der grüne Fraktionschef dabei nicht: Der heute gültige Verteilungsmodus nach dem dHondtschen Verfahren benachteiligt kleinere Parteien. Eine Gesetzesänderung vor der Wahl ist nicht mehr möglich, daher wird es fast automatisch zu Überhängen kommen. FDP-Fraktionschef Wolfgang Kubicki hält es für wahrscheinlich, dass am Ende etwa 90 Abgeordnete im Parlament sitzen werden.
Im Büro der Wahlleiterin Manuela Söller-Winkler hält man sich bedeckt. "Es steht alles im Gesetz erläutert, und Hypothesen wollen wir nicht aufstellen - wir wissen ja nicht, was die Leute wählen", sagt Pressesprecherin Monika Grollmuss. Die Landtagsverwaltung ist da ein paar Schritte weiter: "Richtig planen können wir noch nicht, aber wir überlegen schon mal grundsätzlich", so Annette Wiese-Krukowska. Der Plenarsaal reiche für 90 Leute locker aus - als er geplant wurde, gehörten dem Landtag 89 Abgeordnete an -, und selbst 100 Stühle seien unterzubringen. "Schwieriger ist es mit Büroräumen", meint die Landtagssprecherin.
So müssten sich in Zukunft mehr Abgeordnete die Arbeitsplätze teilen, und falls weitere Fraktionen - die Linken oder die Freien Wähler - einziehen, wäre das Haus an der Förde überfüllt, dann müssten Büroräume außerhalb angemietet werden. Dabei waren sich eigentlich alle Fraktionen einig gewesen, den Landtag zu verkleinern: Dafür wurde vor der Wahl 2005 die Zahl der Abgeordneten auf 69 und die der Wahlkreise von 45 auf 40 gesenkt.
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