: Wäre sein Vater ein hoher Funktionär ...
In China werden immer mehr Menschen entführt / Bauern zahlen große Summen für ersehnten Sohn – Frauen und Mädchen werden in die Prostitution verkauft / Korruption bei der Polizei ■ Aus Wuhan Sheila Tefft
Bis Anfang des Jahres war Gong Hao nur eines von vielen verzogenen Einzelkindern in China. Das änderte sich jäh an einem Morgen im Februar, als der pummelige Zwölfjähige auf dem Schulweg von einem Mann angehalten und nach dem Weg befragt wurde. Ohne daß er sich's versah, hatte ihn der Mann gepackt, in ein wartendes Taxi geschoben und ihm dann die Augen verbunden. Während seiner 105 Tage dauernden Gefangenschaft, in der er aus der Stadt Wuhan in Zentralchina durch vier Provinzen geschleppt wurde, bevor er entfliehen und heimkehren konnte, wurde Gong Hao, der zuhause Pangzi – „Dicker“ – gerufen wird, geschlagen und zur Arbeit auf den Feldern gezwungen. Der Junge verlor fast die Hälfte seines Gewichts von 120 Pfund.
In der engen Zweizimmerwohnung seiner Familie, vor einem Videotrickfilm und mit einem Beutel chinesischer Süßigkeiten, ist Pangzi inzwischen wieder rund und rosig, und das Leben ist wieder normal, sagen seine Eltern. Aber er geht nicht mehr unbegleitet ins Freie. Da die Familie von der Polizei praktisch keine Hilfe erhielt, verbrauchten sie ihre Ersparnisse in Höhe von rund 1200 Mark auf der Suche nach dem Jungen. Inzwischen haben die Eltern für Pangzi eine Versicherung in Höhe von 700 Mark abgeschlossen, falls er noch einmal verschwinden sollte.
„Wir hatten von entführten Frauen und Kindern gehört, aber wir hatten nie gedacht, es könnte unserem Sohn passieren“, sagt Gong Ping, Pangzis Vater, Elektriker in einer Wuhaner Fabrik.
In den letzten Jahren ist der Handel mit Frauen und Kindern, häufig mit Wissen von Polizeibeamten, zu einem ernsten Problem in den Städten und auf dem Lande geworden. Die chinesische Presse berichtet immer häufiger von solchen Fällen: Frauen, die in Beijing als Kinderfrauen arbeiten, verscherbeln ihre Schützlinge; eine Bande von Bauern in Sichuan kidnappt und verkaufte innerhalb von sechs Jahren über achtzig Kinder und fünf Frauen; zwei alte Frauen in der Provinz Zhejiang verkaufen drei Dutzend Kinder, viele noch keine Woche alt; Kinder in Schanghai werden entführt, nachdem man ihre Eltern betäubt hat. Und in Guangxi werden Frauen vom Lande mit Versprechungen auf Arbeitsplätze in die Städte gelockt, vergewaltigt und in die Prostitution verkauft. Die offizielle Legal Daily berichtet, daß 1991 und 1992 mehr als 50.000 Fälle entführter Frauen und Kinder gemeldet wurden. Fast 90 Prozent wurden befreit, schrieb die Zeitung, und 75.000 Kidnapper wurden verhaftet. Chinesische Beobachter suchen die Schuld an der Entführungswelle bei der zunehmenden Prostitution sowie bei der strengen Ein-Kind-Familienplanungspolitik. Während immer mehr Kinder ausgesetzt werden und die staatlichen Waisenhäuser sich mit unerwünschten kleinen Mädchen und behinderten Jungen füllen, sind die Bauern oft bereit, große Summen für einen verzweifelt ersehnten gesunden Sohn zu bezahlen.
Regierungsbeamte erklären, ihrer Meinung nach hätten drei Viertel der Entführungen ihre Wurzel in wirtschaftlichen Streitigkeiten und fehlendem Rechtsschutz. Denn wenn Gläubiger keine andere Möglichkeit sehen, ihr Geld einzutreiben, lassen sie häufig Kinder und Frauen reicher Bauern und Geschäftsleute entführen, um die Schuldenrückzahlung wenigstens in Form von Lösegeld sicherzustellen. In der Provinz Guangdong wurden 1993 über 400 Entführungen gemeldet, und laut Rechtszeitung werden es jährlich mehr.
Vor allem in den boomenden Küstenprovinzen breitet sich das Geiselnahmeunwesen aus – unter Mitwirkung korrupter Polizeibeamter. Geschäftsleute, die fällige Forderungen eintreiben wollen, bezahlen Polizisten dafür, daß sie Schuldner festhalten, um die Rückzahlung zu erzwingen. Es ist inzwischen ein blühendes Geschäft.
Pangzis Eltern sagen, wegen der Korruption und Gleichgültigkeit der Polizei hätten sie die Dinge selbst in die Hand nehmen müssen. Nach dem Verschwinden des Jungen durchkämmten die Eltern und ihre Freunde die Straßen von Wuhan auf dem Fahrrad, hängten Zettel aus, befragten Einwohner und suchten nach Spuren des Jungen. Jeden Tag ging Wang Jinju, Pangzis Mutter, zur Polizeistation, um Hilfe zu erbitten. „Sie sagten mir, solche Dinge kämen häufig vor, oder es sei unmöglich, nach dem Jungen zu suchen“, erinnert sie sich. „Ein Beamter sagte mir, wenn ich ihm 5000 Yüan gäbe (1000 Mark), dann wolle er nach meinem Sohn suchen. Wäre es der Sohn eines hohen Funktionärs gewesen, wäre die Polizei überall gewesen“, sagt sie.
Inzwischen war Pangzi im Zug in die Nachbarprovinz Hunan gebracht worden. Um ihn am Schreien zu hindern, hielt sein Entführer ihm ein Messer an die Rippen. In Hunan wurde er an einen Bauern verkauft, der ihm die Lederjacke abnahm, ihn verprügelte und Zigaretten an seinen Armen ausdrückte, wenn der Junge bei der schweren und ungewohnten Arbeit Fehler gemacht hatte.
„Der Bauer sagte mir, ich solle ihn Vater nennen“, sagt Pangzi und zeigt die Verbrennungsspuren an seinen Armen. „Weil er den Bauern nicht Vater nennen wollte und ihm nicht gehorchte, beschloß der Bauer, ihn weiterzuverkaufen“, fügt der Vater des Jungen hinzu. Danach lebte Pangzi bei einem Bauern in der Provinz Hubei, hütete Kühe und die dreijährige Tochter der Familie. Er erhielt warme Kleider und besseres Essen, aber wenn das kleine Mädchen schrie, schlug der Bauer den Jungen und verlangte, er solle das Mädchen beschäftigen. Einmal bat er einen Polizisten in der Gegend um Hilfe. „Aber der Polizist sagte, ich kann dir nicht helfen“, erzählt Pangzis Vater.
Endlich bot sich Pangzi bei einer Reise in die Stadt eine Gelegenheit zur Flucht; er kletterte in einen Güterwagen der Eisenbahn und fuhr zuerst in die Provinz Shanxi und dann nach Xian im benachbarten Shaanxi. Dort lebte er zwei Monate lang in abgestellten Güterwagen auf dem Bahnhof zusammen mit anderen Waisen, bettelte und kämpfte ums Überleben.
Gegen Juni, mehr als drei Monate nach der Entführung, schaffte der Junge die Rückkehr mit dem Güterwagen zu einer Stadt in der Nähe von Wuhan, wo ihn ein Mann fand, der seinen Vater benachrichtigte. Die Mutter erinnert sich, daß die Polizei die Familie erst besuchte, als Pangzi wieder zurückgekehrt war. „Zuerst konnte ich gar nicht glauben, daß das mein Junge war. Seine Gesichtszüge hatten sich verändert, er sprach mit einem anderen Akzent und er war sehr dünn.“
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen