: Wachsende Proteste in Armenien
■ Zehntausende demonstrieren gegen Moskaus Nationalitätenpolitik und für mehr Umweltschutz / Proteste halten seit 11. Februar an / ZK-Sekretäre sollen für Ruhe sorgen / Forderungen bisher abgelehnt
Moskau (wps/afp/rtr) – Seit Tagen andauernde Demonstrationen von Armeniern haben die Moskauer KP-Führung zum Eingreifen veranlaßt. Am Mittwoch haben sich nach Mitteilung eines Gewährsmannes erneut rund 200.000 Menschen in Eriwan zu einer Demonstration für den Anschluß des überwiegend von Armeniern bewohnten autonomen Gebiets Berg-Karabach versam melt, das zur Nachbarrepublik Aserbeidschan gehört. Viele Fabriken stünden still. Die Regierungszeitung Iswestija meldete am Dienstag, ZK-Sekretär Georgi Rasumowski und der Erste Vizepräsident Pjotr Demitschew seien in die Autonome Region Nagorno- Karabach entsandt worden, die zur Sowjetrepublik Aserbaidschan gehört. Dort sind offenbar schon am 11. Februar Unruhen ausgebrochen. Das Moskauer Blatt berichtet von Demonstrationen und einem Schulboykott in der zu 80 Prozent von Armeniern bewohnten autonomen Region. Hauptforderung der Protestbewegung ist offenbar die Wiedereingliederung der autonomen Region in die benachbarte Sowjetrepublik Armenien, zu der sie bis zur Oktoberrevolution 1917 gehört hatte. 1923 war sie zu Aserbaidschan zugeschlagen worden, wo sie heute eine Enklave bildet. Die Armenier sind Christen, die übrige Bevölkerung Aserbaidschans ist in ihrer großen Mehrheit islamisch.
Die ZK-Sekretäre haben am Mittwoch Gespräche mit Vertretern der Demonstranten sowie der Partei aufgenommen. Am Montag hatte der Chef der Kommunistischen Partei der Sowjetrepublik Armenien, Karen Demirtschjan, im Fernsehen an seine Landsleute appelliert, Ruhe zu bewahren. Tausende von Menschen hatten vier Tage lang gegen die Umweltverschmutzung durch zwei Gummifabriken und ebenfalls für die Eingliederung der autonomen Region Nagorno-Karabach demonstriert. Demirtschjan sagte den Journalisten zufolge, die Behörden prüften, was mit den Fabriken geschehen solle. Doch das Thema Wiedervereinigung stehe nicht zur Diskussion.
Der Moskauer Oppositionelle Alexander Ogordnikow berichtete unter Berufung auf Einheimische, die Demonstrationen hätten am Freitag begonnen, als die Behörden eine neue Fabrik 15 Kilometer außerhalb der Hauptstadt Eriwans eröffnen wollten. Sie soll ein Werk in Eriwan ersetzen, in dem ebenfalls synthetisches Gummi hergestellt wird. Die Demonstranten warfen laut Ogorodnikow den Behörden vor, daß in der Eriwaner Fabrik immer noch gearbeitet werde. Die Gesundheit der Menschen und die Bausubstanz von Eriwans Altstadt seien gefährdet. Die Menschen wollen keine neue Fabrik, sagte Ogorodnikow.
Das Zentralkomitee der Kommunistischen Partei der Sowjetunion hat am Dienstag die Forderung nach einer Eingliederung der autonomen Region Nagorno-Karabach in die Sowjetrepublik Armenien abgelehnt.
In einer Stellungnahme die die amtliche Nachrichtenagentur TASS veröffentlichte, betonte das ZK, daß Forderungen „nach einer Revision der bestehenden nationalen und territorialen Strukturen den Interessen der arbeitenden Bevölkerung in Aserbaidschan und Armenien widersprechen und die interethnischen Beziehungen stören“.
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