WOHNEN IN BREMEN: Improvisiertes Idyll
Von einer Notunterkunft auf der Parzelle zur Wohnkultur im Grünen: Kaisenhäuser sind viel mehr als ein Dach überm Kopf. Und vom Aussterben bedroht
Die Mieten steigen, günstige Wohnungen werden knapp. Das Viertel kämpft gegen die Stadtaufwertung, Tenever dafür. Wohnungsbündnisse werden geschmiedet, zugleich Luxuswohnungen gebaut. Wie leben die Menschen in armen und reichen Vierteln? Die taz.bremen beleuchtet in loser Folge, wie BremerInnen wohnen und sich der urbane Raum verändert.
Hinter dem Eingang am Zaunkönigweg, gleich an der hölzernen Pforte mit ihren stilisierten Sechskantschrauben obenauf, wächst links und rechts ein grüner Buchsbaum. Ordentlich in runde Form geschnitten. Dahinter blüht es üppig, beidseits des Weges, der zum Haus Nummer 15 führt – weiß und gelb und lila – ein bisschen wie in einem Bauerngarten. Linkerhand steht eine alte Laterne, der weiße Lack blättert schon etwas, das Glas ist matt geworden über die Jahre. Früher stand sie an der Insel am Lankenauer Häöft. „Martimer Kram“, sagt Wilhelm Grützke dann, und dass er ihn „gerne“ hat. Aber er war ja auch beim Hafenamt, die letzten 20 Jahre seines Berufslebens – Grützke ist Elektriker, wie zuvor schon sein Vater. Bald wird er 76. Und lebt „auf Parzelle“, wie man hier sagt. Er darf das: „Willy“, wie seine Frau Ursel ihn nennt, ist „Kaisenhauswohner“. Einer der letzten seiner Art.
1951 gab es in der kleinen Sackgasse in der Waller Feldmark 19 bewohnte Parzellen, sagt das Adressbuch von damals. 1979 waren es noch 13. Heute sind es noch drei. Wilhelm Grützke gehörte immer dazu. Seit 1945. Der Krieg war zu Ende, das Elternhaus ausgebombt, der Vater in den letzten Kriegstagen bei einem Betriebsunfall ums Leben gekommen. „Meine Mutter sagte, jetzt gehen wir inne Stadt oder wie bauen hier“, sagt Grützke. Und hier, da war ein kleines Wochenendhaus im Kleingartenverein Union – er nennt sie eine „Holzbude“. Sie wurde zum Überlebensstützpunkt. 1948 entstand das heutige Siedlerhaus mit Satteldach, es misst sechs mal sechs Meter – 36 Quadratmeter waren zunächst genehmigt worden. Auf Widerruf. Das Holz aus der alten Bude verwendeten sie wieder, die Nägel ebenso, sie wurden gerade geklopft, Baumaterial war schließlich knapp, Stein und Zement gab‘s nur auf Bezugsschein. Oder mit Beziehungen. Doch der Onkel war Maurer, die ersten Jahre lebte er mit seiner Schwester Klara, Wilhelms Mutter und den Kindern unter einem Dach, ehe er selbst baute, nebenan im Rotkehlchenweg.
Kürzlich ist die erste umfassende Studie zu dem Thema erschienen: Kirsten Tiedemann: "bremens-kaisenhaeuser&catid=74:neuigkeiten:Bremer Kaisenhäuser - Mehr als ein Dach über dem Kopf" , Band 16 der Schriftenreihe des Bremer Zentrums für Baukultur, Verlag: Bremer Tageszeitungen AG, ISBN 978-3-938795-39-2, Preis 16,90 €
„Der erhebliche Ausfall von Wohnungen durch den Krieg zwingt dazu, Bedenken gegen das Wohnen in Kleingärten zeitweise zurückzustellen“, steht in dem Erlass von SPD-Bürgermeister Wilhelm Kaisen vom 1. August 1945. Vier Jahre später wurde dieser sogenannte Kaisenerlass wieder zurückgenommen. Wer schon hier wohnte, durfte bleiben. Natürlich nur „vorrübergehend“. Familie Grützke war gerade in ihren Neubau gezogen.
1963 heiraten Wilhelm und Ursel, die zunächst in einem ausrangierten Eisenbahnwaggon in Findorff gelebt hatte. Sie zog zu ihm, bekam zwei Kinder. Später war sie die Küsterin der Waller Fleetkirche, bald wird sie 70. Sohn Bernd hat heute eine Parzelle gleich nebenan. Das Tor dazwischen ist offen.
„Bin im Garten“ steht auf dem Schild, das an Grützkes Haustür klemmt. Gleich gegenüber stehen zweireihig die Ställe, mit Hasen und Kaninchen und Meerschweinchen drin, ein paar Meter weiter leben mehrere Hühner. Und ein paar Tauben. Manche der Tiere landen auch mal im Kochtopf. Früher wuchsen Obst, Gemüse auf jedem freien Quadratmeter, alles andere war Luxus. Heute trocknen auf dem Gartentisch, unter der mit Efeu bewachsenen Pergola, Scharlotten. Die Kartoffeln hat Grützke gerade geerntet, der Mangold, gleich daneben, wächst noch, ein paar Zucchini blühen auch. „Da sind wir schon eher die Ausnahme“, sagt Wilhelm Grützke. „Wer macht das noch so intensiv?“
Ende der Siebziger, Anfang der Achtziger, ja, da überlegte er mal, doch wegzuziehen. Aber irgendwie fehlte es am Geld, am Grundstück, und Schulden wollte Grützke keine machen. Also blieb er. Und stockte das Haus auf, in Eigenregie und Leichtbauweise. „Das musste schnell gehen“. Eine Eisenleiter führt von draußen auf den Anbau mit der kleinen Dachterasse vor dem Obergeschoss. Viele solcher Häuser sind ganz ohne Genehmigung entstanden, bisweilen an einem Wochenende. Bei einigen zog Elektriker Grützke die Leitungen, manchmal war die Wand dann, am Sonntag, noch feucht. „Der eine war für den anderen da“, sagt Grützke. Solidarität schrieb man groß in dieser Kleingartenkolonie, die meisten dort waren Arbeiter und Handwerker aus dem Bremer Westen, viele bei der 1983 untergegangenen AG Weser beschäftigt.
In Grützkes Garten weht am Fahnenmast die grün-weiß-gelbe Kleingärtnerfahne. Grün wie die Hoffnung, Weiß wie die Parteilosigkeit, Gelb wie die Lebensfreude. Graue Hochhaussiedlungen, wie sie in der Vahr oder in Tenever entstanden, als Antwort auf die Wohnungsnot – „das wär nichts für mich“, sagt Grützke. „Da kannste keine eigenen Interessen entwickeln.“ Und musst zusehen, wie die anderen beim Essen „auf deinen Teller glotzen“. Im Zaunkönigweg guckt niemand. Geht gar nicht.
„Die ersten Jahre waren die härtesten“, sagt Grützke. Der Jahrhundertwinter 1946/47 dauerte bis März, mit Temperaturen bis -30 Grad. Strom hatten Grützkes da noch nicht, nur Petroleumlampen, dazu einen Kanonenofen in der Ecke. Fließend Wasser kam erst in den Sechzigern, vorher wusch man sich mit Regenwasser, um nicht so oft zur Zapfstelle zu müssen, die hier anfangs immerhin zweieinhalb Kilometer entfernt lag. Im Winter blieb er manchmal zu Hause, weil er kein Schuhwerk hatte. „Und wenn du als Kind vor ‘48 einen Tennisball hattest, dann warst du schon der König“, sagt Grützke. Trotzdem: „Wir haben in unserer Jugendzeit nichts vermisst.“ Man kannte es ja auch nicht anders. „Du hast nicht so viele Ansprüche gestellt.“
1974 sicherte die Dienstanweisung Nummer 286 des Bausenators auch Grützkes zu, lebenslang auf der Parzelle bleiben zu dürfen. Das „Auswohnrecht“ wurde eingeführt. Gleichzeitig beschloss der Senat Sanierungsmaßnahmen und eine Kontrolle aller Dauerkleingartengebiete – wer seine Parzelle freiwillig aufgab, bekam bisweilen Entschädigung. „Bereinigung“ nannte man das. Parallel dazu entstand an der Bayernstraße, bei Grützkes nebenan, ein Gewerbegebiet – dort wo früher Parzellen standen. In der Waller Feldmark war der Widerstand gegen beides groß. Von „Zwangsumsiedlung“ war die Rede. Für das Bauordnungsamt sei das Gebiet eine „no-go-area“, schrieb die taz damals. 2002 wurde, in einem Kompromiss, das „Auswohnrecht“ in Walle erweitert. Auch Bernd Grützke, Jahrgang 1965, könnte davon profitieren.
Jüngst war im politischen Bremen wieder mal davon die Rede, dass das Gewerbegebiet an der Bayernstraße wachsen soll, um 20 Hektar, auf Kosten jener Kleingärten, in dem auch Grützkes leben. Von günstigem Wohnraum, vom Leben im Grünen nicht für Reiche redet dagegen niemand mehr. Zwar ist die Industriebrache momentan offenbar vom Tisch. Vorerst. Doch Wilhelm Grützke ist sich sicher: „Das wird kommen.“
Es wäre das Ende der Freiheit, wie Grützkes sie kennen.
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