WM-Qualifikation im Schwimmen: Normiert und angeschmiert
Krauler Paul Biedermann bricht zwei deutsche Rekorde, trotzdem verpasst er auf diesen Strecken die Qualifikation für die WM. Nur über 200 Meter darf er in Rom ran.
BERLIN taz | Paul Biedermann ist zurzeit nicht nur der schnellste Schwimmer im Land, der junge Mann aus Halle an der Saale hat sich auch in Rekordzeit zur moralischen Instanz unter Deutschlands Bahnenziehern aufgeschwungen. Denn während bei der Berliner WM-Qualifikation die Kollegen in großer Hektik irgendwo einen Rennanzug der neuesten Sorte aufstöberten, um die Qualifikationsnormen zu erfüllen, sprang Biedermann auch bei seinem gestrigen Finale über 200 m Freistil in fast schon vorsintflutlicher Badebekleidung ins Wasser, schwamm Europarekord (1:44,71) und qualifizierte sich auf seiner Paradestrecke für die WM.
"Ich habe ein Modell von 2007, damit bin ich sehr zufrieden", betonte der 22-Jährige in der Hauptstadt immer wieder und empfahl dem Weltverband Fina in der Anzugsfrage ein paar kräftige Ruderschläge rückwärts: "Ich fand die frühere Regelung insgesamt besser für den Schwimmsport." Jetzt ist der eine Rennanzug erlaubt, der andere nicht, der Weltrekord von Herrn X wird gestrichen, der von Frau Y anerkannt. Es herrscht enorme Verunsicherung, DSV-Sportdirektor Lutz Buschkow kündigt für die WM in Rom bereits eine "Materialschlacht" an - wobei sich der selbst ernannte Sittenhüter Biedermann noch mit einem ganz anderen Problem konfrontiert sah.
Zwei deutsche Rekorde fielen seinen Kraulschlägen am Samstag zum Opfer - jene über 100 und 400 Meter Freistil. Auf der längeren der beiden Strecken tilgte er gar die Uraltmarke des Potsdamers Uwe Daßler von den Olympischen Spielen 1988 in Seoul. Damals gab es die DDR noch - doch nun stand Paul Biedermann wie ein begossener Pudel in dem überholten Schwimmdress seines Ausrüsters Arena da: Keiner der beiden Rekorde hatte ihm ein Ticket für Rom eingebracht, seine Europarekordstrecke über 200 Meter Freistil blieb Biedermanns letzte Chance.
Von einem "richtigen Hieb" seines Schülers sprach Heimtrainer Frank Embacher, als die Daßler-Marke gelöscht worden war, stellte aber zugleich betrübt fest: "Wir wollten schon jetzt eine WM-Norm knacken." Am Ende fehlten Biedermann ("Mit der Zeit gewinne ich bei der WM keinen Blumentopf") über diese Distanz eineinhalb Sekunden. Über die zwei Bahnen Kraul war er am Ende 19 Hundertstel zu langsam und äußerte anschließend leise Kritik an den Vorgaben des Verbandes: "Je länger die Strecken, umso schwieriger die Norm. Wir sollten schauen, dass wir in Rom nicht nur von Sprintern angeführt werden."
Kraul: Die deutsche Meisterschaft der Schwimmer in Berlin entpuppte sich als ein wahres Rekordfestival. Über 100 Meter Freistil konnte Britta Steffen ihren Weltrekord vom Donnerstag am Samstag noch einmal verbessern. Sie schwamm 52,56 Sekunden, nicht nur dank ihres angeblich wundersamen Schwimmanzugs.
Rücken: Daniela Samulski aus Essen stellte auch einen Weltrekord auf - über 50 Meter Rücken. Die 24-Jährige schwamm 27,61 Sekunden und verbesserte die Bestmarke der Chinesin Jing und der Britin Edlington um 6/100 Sekunden. Bundestrainer Dirk Lange sagte: "Sie haben sich in einen Rausch geschwommen."
Freestyle: Lange freute sich über die "Aufbruchstimmung". Und weiter: "Ich bin diese Anzugdiskussion langsam leid. Jetzt haben wir endlich mal vergleichbare Augenhöhe. Es braucht sich keiner zu entschuldigen, wenn er eine gute Zeit schwimmt. Alle nutzen nur das aus, was erlaubt ist."
Allerdings steht Biedermanns Einschätzung im Widerspruch zu den vom DSV gesetzten Grenzwerten. Auf den Sprintstrecken markierte der Verband in Berlin Platz acht auf der bereinigten Weltrangliste als Richtzeit, auf den mittleren Distanzen über 100 und 200 Meter war es Rang 14, auf den längeren Platz zwölf. "Wir haben die härtesten Nominierungskriterien der Welt", sagt Bundestrainer Dirk Lange mit stolzgeschwellter Brust. Und wie so oft vor großen internationalen Ereignissen überzeugen die DSV-Schwimmer beim innerdeutschen Vorspiel: Eine Teamstärke von "12 bis 15" Athleten hatte Sportchef Buschkow für die WM ausgegeben, am Samstag waren bereits 14 Einzelplätze für die Reise an den Tiber vergeben.
"Das ist", strahlt Lange, "eine erfreuliche Dichte, die wir mittlerweile hinter unseren Speerspitzen Steffen und Biedermann vorzuweisen haben." Die Berliner Speerspitze Britta Steffen legte dabei nach ihrem zweiten Weltrekord über 100 m Freistil innerhalb von zwei Tagen gesteigerten Wert darauf, ihre wuchtige Siegerzeit von 52,56 Sekunden nicht mehr bloß auf ihren nagelneuen "Weltraumanzug" reduziert zu sehen. Sie habe, so die 25-Jährige, zuletzt enorm hart trainiert, mehr zum Beispiel als vor Olympia 2008 in Peking.
Da kann Bekleidungspurist Paul Biedermann aktuell nicht mithalten. Das Epstein-Barr-Virus hatte ihn zu Jahresbeginn flachgelegt, fünf Wochen lang konnte der Freistilspezialist nicht ins Becken steigen, 300 Trainingskilometer fehlen ihm. Hinzu kommt der textile Nachteil, den Biedermann zwar offensiv verteidigt - den Britta Steffen aber gerade sehr anschaulich beschrieben hat. Im Internet verfolgte sie ihren jüngsten Weltrekordlauf am Wochenende noch einmal und berichtete danach verwundert von dem augenscheinlichen Auftrieb, den der topaktuelle "Hydrofoil" ihr verschafft. "Bisher", staunte Steffen, "habe ich bei einem Rennen von mir auf dem Bildschirm noch nie meinen Hintern gesehen."
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