WIRD DIE TÜRKEI JETZT NOCH MODERN? : Gefahrenquelle CDU
Noch will man in Ankara nicht wirklich wahrhaben, was sich derzeit in den wichtigsten EU-Staaten abspielt. Die Verhandlungen mit der Union werden am 3. Oktober beginnen, wenn wir unseren Verpflichtungen nachkommen, betont der Außenminister unentwegt. Und wie zum Trotz auf die Schreckensmeldungen aus Berlin ernannte Ministerpräsident Erdogan nach langem Zögern gestern seinen Verhandlungsführer für Brüssel. Doch selbst, wenn die Verhandlungen im Oktober beginnen – es ist absehbar, dass daraus ein unerträgliches Gezerre wird. Wenn Deutschland nach einem Wahlsieg der CDU und Frankreich nach einer Machtübernahme des Konservativen Sarkozy ihr Gewicht dafür einsetzen sollten, den Prozess zum Scheitern zu bringen, kann er nicht gelingen.
Allerdings ist es ja nicht so, dass Europa keine Probleme mehr hätte, wenn ein Beitritt der Türkei vom Tisch wäre. Mit der Ablehnung der Verfassung in Frankreich muss die EU nun endgültig klären, wie ihre Zukunft aussehen soll. Der Türkei kann man wahrscheinlich nur empfehlen, sich aus dieser EU-Selbstfindung herauszuhalten und sich nicht zum Prügelknaben von Politikern machen zu lassen, die aus ganz anderen Motiven als der Sorge um Minderheiten oder Menschenrechte das Land vorführen werden. Für Ankara heißt das, die Modernisierung ohne große Unterstützung aus Brüssel fortsetzen zu müssen. Das wird erheblich schwerer, weil der Wohlstandsgewinn, der am Ende der Reformen stehen soll, ohne eine EU-Perspektive kaum zu realisieren ist. Dennoch wird der Regierung in Ankara nichts anderes übrig bleiben, als Entscheidungen in Brüssel hinzunehmen und darauf zu hoffen, dass nach einer Klärung innerhalb der EU ein neuer Anlauf möglich ist.
Die innenpolitische Gefahr ist, dass die schon jetzt in die Defensive geratenen Reformer nach einem ersten Scheitern ihrer EU-Beitrittsbemühungen von der nationalistischen Fraktion überrannt werden. Wirtschaftlicher Misserfolg, Enttäuschung und das Gefühl, verraten worden zu sein, sind ein guter Nährboden für Irrationalität und politischen Selbstmord. JÜRGEN GOTTSCHLICH