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WIR LASSEN SPIELENFreude schöner Götterfunken

■ Per Videospiel zum olympischen Gold

Die Stadionuhr zeigt vier Uhr nachmittags. Dreimal dreht sich Igor Molotow (EUN) im Abwurfkreis, wunderschön schwingt der Hammer über seinem Kopf. Jetzt geht es darum, den idealen Abwurfpunkt zu erwischen, aber, o weh, der Zeigefinger rutscht aus, und die Kugel landet bei 57,09 Metern. Letzter Platz — und da ist es nur ein schwacher Trost, daß Igor im 100-m-Lauf, der ersten Disziplin des olympischen Siebenkampfes, die Goldmedaille gewonnen hat, gegen lauter Amateure allerdings, und sich zur Belohnung bei der Siegerehrung die Gussen- Nichthymne „Freude schöner Götterfunken“ anhören durfte.

Als nächstes steht Bogenschießen auf dem Programm, und gleich der erste Schuß landet außerhalb der Scheibe. Igor Molotow hat den Bogen viel zu schwach gespannt, die Zuschauer grummeln enttäuscht. Die nächsten Pfeile fliegen besser, einer landet sogar in der Zehn, doch es dauert viel zu lange, bis Igor den unruhig hin und her wackelnden Bogen auf das Ziel fixiert hat. Bevor er seinen letzten Schuß abgeben kann, ist die erste Runde vorbei. Den Rückstand kann der Russe auch in den nächsten beiden Durchgängen nicht aufholen. Schon wieder Letzter. Langsam wird es blamabel. Nicht auszudenken, was passieren würde, wenn sich Molotow per Knopfdruck auf nationales oder gar olympisches Niveau begäbe.

Der 110-m-Hürdenlauf bietet die Gelegenheit zur Rehabilitation. Die Uhr im Montjuic-Stadion von Barcelona zeigt vier Uhr, und schon an der ersten Hürde verfehlt Igor den Absprung, hüpft zu spät, rammt die Hürde, kommt ins Straucheln, fällt zurück. Da er es wieder nur mit Amateuren zu tun hat, kann er aufholen, ein kleiner Druck auf Knopf C, er wirft sich ins Ziel und erreicht als Dritter gerade noch den Endlauf, wo er dann wegen zweier Fehlstarts disqualifiziert wird.

Besser läuft es im Stabhochsprung. Die Konkurrenz ist schon längst am Ende, da steigt Igor Molotow erst ein: 5,70 m. Der komplizierte Bewegungsablauf — Anlauf, Plazierung des Stabes, Stab loslassen, Arme hochreißen — klappt perfekt, gemeistert im ersten Versuch. Die Goldmedaille ist sicher, jetzt muß der Weltrekord her. Und tatsächlich: Die Stadionuhr zeigt vier Uhr, ein Werbezeppelin zieht am Firmament vorüber, und das Publikum ist schier aus dem Häuschen, als der Athlet im ersten Versuch 6,30 m überspringt. „Neuer Weltrekord“ blinkt auf der Anzeigentafel. Freude schöner Götterfunken zum zweiten.

Beim Kunstspringen verspielt Molotow endgültig alles. Gleich im ersten Sprung legt er einen Bauchklatscher hin wie sonst nur Albin Killat. 0,00 beträgt die gerechte Wertung, ungläubiges Raunen in der Schwimmhalle. Auch die nächsten drei Pflichthüpfer gemahnen eher an die Morgengymnastik einer betrunkenen Ente, und beim abschließenden Kürsprung verheddern sich erneut die Finger. Igor landet auf dem Rücken und kann froh sein, daß er nicht mit dem Kopf aufs Brett knallt. In der Gesamtwertung fällt er auf den zehnten Rang zurück.

Letzte Disziplin: 200-m-Freistil- Schwimmen. Der rehabilitationswillige Molotow legt los wie der gleichnamige Cocktail. Bei der ersten Wende liegt er klar in Führung, die zweite verpatzt er, weil er zu früh die Arme streckt, und auf der Schlußbahn wird offenbar, daß es sich um einen klaren Fall von Übermotivation handelt. Der EUN-Athlet hat viel zu schnell begonnen, das komplette Feld zieht an ihm vorbei, während sich Igor gerade so vor dem Ertrinken retten kann. Das Finale findet ohne ihn statt, und während die Sonne sinkt — die Stadionuhr zeigt vier Uhr — und ein Feuerwerk die Spiele beendet, ist auf der Anzeigetafel zu lesen: 12. EUN I. Molotow. Bevor er sich das nächste Mal an einen Olympiastart wagt, ist erst mal eisernes Training oder besser noch ein Wechsel der Identität angesagt.

Kein Problem beim Videospiel „Olympic Gold“, wo der nächste Wettkampf durchaus als Yosuke Yamashita aus Japan oder Gianpiero Corleone aus Italien absolviert werden kann, Athletinnen allerdings nicht vorgesehen sind. Beim Spiel mit den Knöpfen auf dem „Joypad“ sind schnelle Finger, eine gute Koordination und, je nach Disziplin, bestimmte taktische Fähigkeiten gefragt, um gegen amateurhafte, nationale oder olympiareife Konkurrenz bestehen zu können und am Ende etwas besser abzuschneiden als Igor Molotow, dem als Trost immerhin sein Weltrekord im Stabhochsprung bleibt. Eine Disziplin, die offensichtlich als Labsal für alle Videospiel-Dilettanten konzipiert wurde und bei der jeder Anfänger Höhen überspringen darf, die selbst einen Sergej Bubka mit Grausen erfüllen würden — und das nicht nur bei Olympia. Matti

„Olympic Gold“, Videospiel, Sega

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