WIEDERGELESEN: CHRISTIAN LUDWIG LISCOWS SCHRIFTEN VON BENNO SCHIRRMEISTER : Der Totlacher
Dass es ihn gegeben hat, wissen ein paar Fachleute. Und die Schüler des Christian Ludwig Liscow-Gymnasiums in McPomm. Sein Werk ist, wie von ihm selbst prophezeit – vergessen. Doch das dürfte nicht sein. Denn der 1701 im mecklenburgischen Wittenburg geborene Christian Ludwig Liscow ist der mit Abstand wirkungsmächtigste deutschsprachige Satiriker aller Zeiten.
Wobei Wirkungsmacht bedeutet: Dass seine in schwungvolle Prosa gebrachte Verachtung Folgen zeitigte – im wirklich wahren Leben. Mindestens einen Menschen hat sie völlig ruiniert. Und wahrscheinlich – durch eine fünf Jahre währende Kontroverse – getötet.
Begonnen hatte diese im Jahre 1732, die ersten Texte hatten Hamburger Kaufleute bestellt und bezahlt, Liscows Bruder, Redakteur beim „Hamburgischen Correspondenten“ besorgte die Herausgabe, und ihr Opfer, der Rhetorikprofessor Johann Ernst Philippi, wurde in ihrem Verlauf schließlich sogar vom Preußenkönig Friedrich Wilhelm I. persönlich gezüchtigt. Weil Ihre Majestät sein Ersuchen um Beistand im Streit als „Zudringlichkeit“ empfand. Und weil Philippis Bemühungen, sich gegen Liscow zu wehren, den Ruf der noch jungen Hallenser Universität gefährdeten. Von dort abberufen, scheitert der Versuch, ihn an der Uni Göttingen zu versorgen. Die letzte gesicherte Nachricht aus Philippis Leben ist, dass man ihn 1740 in die Irrenanstalt Waldheim sperrte. Dann verliert sich die Spur: Ende der 1750er muss er gestorben sein, mutmaßen die Nachschlagewerke. Totgelacht von Christian Ludwig Liscow.
Der hat Satire tatsächlich als „eine Arzney“ bezeichnet, die nur der Besserung der Thoren „wenn sie gleich, als ein Gift den Thoren tödtlich ist“. Und nie hätte sich eine Schule nach einem solchen Monster benennen dürfen. Aber unklug wäre es, ihn zu vergessen. Auch weil dieses Extremisten Tinte das Register der komischen Literatur um eine grandiose Spielart erweitert hat: Die Fußnoten-Persiflage.
Auch das geschah 1732, jedoch in der Auseinandersetzung mit dem Lübecker St. Annen-Prediger Heinrich Jakob Sivers. Auslöser ist dessen Erbauungstraktat über die Passion Jesu mit – angeblich – „kurtzen exegetischen Anmerkungen“. Nach einem Vorgeplänkel per Rezension, auf die Sivers von der Kanzel herab antwortet, produziert Liscow die „Klägliche Geschichte von der jämmerlichen Zersthörung der Stadt Jerusalem“ – eine gefakte Andachtsschrift. Die wäre für sich genommen öd. Die wildeste Komik aber tobt in ihren „kurzen, aber deutlichen und erbaulichen Anmerkungen nach dem Geschmacke des Herrn M. Heinrich Jacob Sievers“. Konsequent nämlich kommentiert Liscow mit ihnen Stellen, die auf radikale Weise kommentarunbedürftig sind. Erwähnt das Pseudo-Traktätchen „ein ehernes grosses starkes Thor, da zwanzig Männer an heben mußten“ – erläutert eine Anmerkung die Zahlenangabe: „vermuthlich, weil es sehr schwer war“. Ein Komet erscheint über der Stadt und wird von „jedermann gesehen“ – Liscow schränkt, via Fußnote ein: „nämlich von allen Leuten, die nicht blind waren“. Und wo der Haupttext den Ausruf „Wehe auch mir“ als „ungewöhnliche Worte“ qualifiziert, naseweist der Verfasser am Seitenfuß, dass dies „kein Wunder“ sei. „Denn damals war die deutsche Sprache noch nicht sonderlich bekannt zu Jerusalem“.
Liscows Komik ist ein Lektürephänomen: Sie lässt sich weder laut vortragen, noch teilt sie sich in der Nacherzählung mit. Aber sie zerschießt unweigerlich den nur zu diesem Zweck geschaffenen Haupttext – der als perfekte Nachahmung der Sivers-Prosa gestaltet ist. Sie zerstört dessen Sinn – wodurch sie den der Vorlage zweifelhaft macht.
Das hätte doch gereicht. Aber Liscow ist ein Bluthund: Binnen eines Jahres gehen noch zwei weitere Anti-Sivers-Texte in Druck, in den hanseatischen Salons kursieren Spottgedichte, denen zufolge sich der Theologe bei einer Zornpredigt „bepisst“ habe. Auf der Kanzel. In Lübeck wird Sivers untragbar. Immerhin, überlebt hat er’s. Zwei Jahre vor Liscow ist er 1758 gestorben. In Norköpping. Und nach 20 Jahren im Exil.