WIE SIND WIR DENN DRAUF? : Der Hang zur Reflexion
Sie sind unübersehbar. Sie stehen an jeder Kreuzung. Ganze Pulks von Radfahrern warten an den Ampeln auf Grün – oder auf die nächste Lücke im Autoverkehr. Dabei ist längst Dezember. Von oben fällt Eisregen, und auf den Straßen liegt Schnee. Wenn aber trotz Minustemperaturen massig Radler unterwegs sind, stellt sich die Frage: Hat sich Berlin endgültig in ein Fahrradmekka verwandelt?
Da streiten sich die Experten. Die einen meinen, ja klar, das ist doch offensichtlich. Die anderen entgegnen, ach was, das war doch letzten Winter auch schon so.
Sicher ist nur eins: Die Radfahrer sind unübersehbar – weil sie es darauf anlegen. Sie haben ein funktionierendes Licht am Rad. Und neuerdings eine reflektierende Weste am Oberkörper!
In Müllmannorange. Oder in Aggroneongelb. So, wie das auch die lieben Kleinen tragen müssen auf ihrem Weg durch die dunkle Morgenstunde zur Kita.
Mancherorts hat man den Eindruck, da flickt ein fleißiger Arbeitertrupp die gefrosteten Straßen. Und dann sind es doch nur ein paar Radler, die im Slalom die Baustellenabsperrungen umkurven.
Aber woher kommt der neue Hang zur Reflexion? Ist die Neonweste nur der Fahrradhelm des Winters, also typisches Accessoire des risikoscheuenden Sicherheitsfanatikers, der auch an jeder roten Ampel hält? Uncool per Definition?
Es fällt auf: Der durchschnittliche Leuchtwestenradler ist Mitte vierzig. Der wird das eher als Zeichen der Kontinuität sehen. Denn vor 20 Jahren trieb er sich in den Technobunkern der Stadt herum – und trug dort selbstverständlich das angesagteste Kleidungsstück der Szene: die BSR-orange Neonweste. Was heute auf den Straßen reflektiert, ist somit nichts anderes als eine Retroreminiszenz echter Kenner an den Style des Nachwende-Berlins.
Trendbewusste Berliner haben das längst begriffen. Sie tragen in diesem Winter pink leuchtende Wollmützen – sogar ganz ohne Fahrrad. GEREON ASMUTH