WESPENATTACKE : Nichts schwoll an
Die Gier der Wespen ist unbeschreiblich. Ich meine, Wespen kennen echt nichts: Sie kennen keine Berührungsängste, keinen Respekt, keine Trauer. Hat man eben erst eine von ihnen erschlagen, kommen gleich zwei Schwestern der Verstorbenen und schauen, dass sie etwas vom Kuchen abbekommen. Man scheucht sie weg, sie kommen wieder. Mit ihnen ist auch echt kein Reden. Wespen sind Egotiere, einzig vom eigenen Selbsterhaltungstrieb gesteuert: Sie sind die neoliberalsten Tiere der Welt.
Spatzen hingegen kennen zumindest noch im Ansatz so etwas wie Scheu. Neulich saß ich an der Rosa-Luxemburg-Straße vor einer guten und günstigen Pizzeria, und hatte es gleich mit einer Gang von Spatzen zu tun, die sich bis auf wenige Zentimeter mir und der Pizza näherten. Aber sie wären nicht einfach so drauflosgeflogen. Sie nahmen mich wahr, als potenzielle Gefahr wie auch als potenziellen Guttäter, der ich dann auch meistens war.
Wespen hingegen: fliegende Nervtöter. Blind für die Umstände. Und ihrerseits eine Gefahr, schließlich haben sie einen Stachel. Neulich wurde ich vor meinem Lieblingscafé am Heinrichplatz tatsächlich von einer gestochen. Es tat ein wenig weh, ich beklagte mich sofort, was meinen Sitznachbarn dazu anstachelte, ein Schreckensszenario auszumalen, das er schon einmal in echt hatte erleben müssen: Eine Bekannte sei auch einmal von einer Wespe gestochen worden. Dann schwoll alles an, sie bekam Atemnot, Sehfeldausfall, kurzzeitige Aphasie, der Notarztwagen musste kommen und sie ins Krankenhaus. Er lachte. Ich saß da und fühlte mich zunehmend schwächer. Man sollte einem Hypochonder und Psychosomatiker niemals Fallgeschichten erzählen. Es war mein erster Stich.
Aber dann war alles gar nicht so schlimm. Nichts schwoll an, nichts setzte aus. Ich weiß jetzt, wie das ist. Große Angst können mir die Dinger nicht mehr machen. RENÉ HAMANN