WENN SIE AM TISCH SITZEN, sind SIE EINFACH ANWÄLTE ODER RENTNER MIT TEUREN LEDERKOMBIS AM LEIB – ABER WEHE, SIE FAHREN MIT IHREN MOTORRÄDERN: Wenn der Lärm sich übers Leben stülpt
Fremd und befremdlich
KATRIN SEDDIG
Am Sonntag waren wir am Zollenspieker Fährhaus, das angeblich am südlichsten Punkt Hamburgs liegt, direkt an der Elbe, wo sich in der Mitte die Grenze zwischen Hamburg und Niedersachsen befindet. Im Zollenspieker Fährhaus kann man Hochzeit feiern, ganz offensichtlich, wir sahen ein paar Bräute und Bräutigame herumrennen. Man kann im Biergarten unter Kastanien sitzen, über die Elbe schauen und ein Bier trinken, oder Kaffee und Kuchen, oder auch im Restaurant sitzen und richtig speisen. Es ist ein altes Haus, die Umgebung ist hübsch, sehr hübsch sogar: Glitzerndes Wasser, Transportkähne, sandige Buchten, der Deich und die Schafe, und alte Bauernhäuser in den Vier- und Marschlanden. Wir dachten uns das so, dass wir durch die herbstliche Natur wandern, irgendwo auf der Wiese ein Nickerchen halten, Bäume und Felder angucken und dann wieder mit dem Bus nach Hause.
Das Wetter war ganz wunderbar, der Tag war golden, die Schäfchen blökten auf dem Deich, und es hätte schön sein können, wenn es nicht enorm laut gewesen wäre. Denn wo wir auch langgingen, und ganz besonders natürlich auf der Straße am Deich, brausten Motorräder an uns vorbei. Das Zollenspieker Fährhaus ist ein beliebter Treff für Biker. Wenn sie am Tisch sitzen, sind es einfach nur Rentner oder Anwälte oder Familienväter mit Familienmüttern an der Hand, in tausend Euro teuren Lederkombis, die sich einen Tee und ein Stück Pflaumenkuchen teilen, aber wenn sie fahren! Wenn sie fahren, sind sie oft laut. Sind sie sehr laut. Sind sie unerträglich laut. Und das macht Stress. Das ist so, der Mensch ist so programmiert, dass ihn große Lautstärken in Stress versetzt, er kann dagegen nichts machen, nicht mal sich einreden, dass er sich nicht in Stress versetzen lassen will, weil er Motorräder eigentlich mag.
Am Sonntag in der Nähe des Zollenspieker Fährhauses, wenn die Sonne scheint an so einem schönen Tag wie vergangenen Sonntag, ist die Straße voll von Motorrädern. Der Stress hört nicht auf, nicht eine Minute, egal, welche Wege man einschlägt, um dem Lärm, der sich über einen legt wie eine Haube, zu entkommen. Die Motorräder düsten durch jedes noch so kleine Dorf, durch das wir liefen, betrübt mittlerweile, weil wir etwas anderes gesucht hatten, die Ruhe, die Natur. Die Natur war auch da, und zwischen zwei Motorrädern vernahmen wir kurz, und fast schon gehörlos, betäubt, das Zirpen einer späten Grille, die schreienden Wildgänse hoch oben am Himmel, das Blöken der Schafe, einen kläffenden Dorfhund, auch einen blubbernden Traktor hinten auf dem Feld. Das alles war immer nur kurz zu hören, bevor sich wieder ohrenbetäubender Lärm ausbreitete. Wir waren genervt und enttäuscht. Es ist schön am Deich, und es ist schön in den kleinen Dörfern, an den Feldern und auf den Radwegen, zwischen den Kürbissen und den Gärtnereien – aber es ist laut.
Ich habe mich gefragt, wie es sein muss, wenn man dort wohnt, in einem dieser Häuser, die an einer dieser Straßen stehen, und sich nicht enden wollender Lärm über das Leben stülpt, vor allem, aber nicht nur sonntags. Lebt man damit? Hat man sich gewöhnt? Geht das? Oder lebt man in Wut und Verbitterung? Und haben die Biker wenigstens ein schlechtes Gewissen, wenn sie so die Lebensqualität anderer Menschen verschlechtern, sie vielleicht sogar krank machen? Ist es ihnen egal, lachen sie darüber, oder freut es sie, wenn sie andere stören, ist das am Ende der Grund? Ist das ein schönes Gefühl, andere Menschen fertigzumachen? Ist das erhebend, fühlt man sich dann ein bisschen mächtiger, in der schrecklich großen Welt?
Biker, der du den Sound deines Bikes liebst, der du extra untertourig fährst, stolz bist auf deinen Klappenauspuff, ich habe eine Nachricht für dich: Wenn du so was nötig hast, bist du ein armer Wicht. / Und ich verachte dich. (Sogar gereimt.)
Katrin Seddig ist Schriftstellerin in Hamburg mit Interesse am Fremden im Eigenen. Ihr jüngster Roman „Eine Nacht und alles“ ist bei Rowohlt Berlin erschienen.
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