WEIHNACHTEN IM WEDDING : Kinderlein, tanzet
Heiligabend, 17 Uhr. Der Baum steht, bunte Sachen hängen auch dran, die Familie ist versammelt und die ganze Wohnung riecht nach Lebkuchen, Suppe und Vorfreude. Schnell noch etwas eiskalte Luft schnappen, bevor der ganze Weihnachtswahnsinn (Kerzen an, Glöckchen läutet, Geschenke auspacken, freuen …) so richtig losgeht. Also raus. Eine Runde um den Block.
Auf der Müllerstraße fahren die Autos aneinander vorbei, als sei es ein Tag wie jeder andere. Die Ampel wechselt unaufgeregt von Rot zu Grün. Auch die Leuchtreklamen der Billigläden scheren sich nicht die Bohne um die Feierlichkeit dieses Nachmittags. Vor der Kapernaumkirche an der Seestraße steht ein Grüppchen von Leuten in dicken Jacken und Mützen und wartet auf den ersten Ton. Sie blicken gespannt auf eine Handvoll älterer Herren, im Halbkreis auf dem Gehweg aufgestellt und beladen mit großen, goldenen Instrumenten: Tuba, Trompete und so weiter.
Dann spielen sie los, gegen den Autolärm an: „Ihr Kinderlein, kommet.“ So bedächtig und in Moll, dass man nicht umhinkommt, an einen Beerdigungszug zu denken. Dann kommt „Leise rieselt der Schnee“ und wir gehen weiter, von Schnee ist nun wirklich nichts zu sehen.
Zwei Ecken weiter, in der Brüsseler Straße, werden Döner, türkische Pizza und Salat mit überdimensionalen Fotografien an einem Schnellimbiss beworben.
Vor dem Haus stehen auch Leute herum. Festlich aufgeregt. Eine junge Frau rafft das rosa Tüllkeid, um ihre Strümpfe zu richten. Die schwarz glänzenden Gelfrisuren und Anzüge der Männer sitzen perfekt. Einer schlägt auf eine riesige Trommel, die er sich um den Leib gehängt hat, ein anderer spielt auf einer Art Oboe eine orientalische Derwisch-Melodie, als ginge es um sein Leben. Man hakt sich ein und tanzt auf dem Gehweg. Türkische Hochzeit. Deutsche Weihnacht. Willkommen im Wedding.
KIRSTEN REINHARDT