WAS IST FORTSCHRITT? GEDANKEN ZU GORLEBEN : Abschied von „Atomino“
„Atomino“ hieß die lustige Comic-Figur aus der Pionierzeitung Frösi. Sie war einem Atomkern nachempfunden, ging durch die Welt, gab überall von ihrer Energie ab und linderte somit die Not. Friedliche Nutzung der Kernenergie – das war doch eine prima Sache. So wuchsen wir auf und wollten später ebenfalls zum Wohle der Menschheit arbeiten. Was sollte daran schlecht sein?
Mein erster „Absturz“ in die Realität kam beim Grundwehrdienst. Natürlich war es schwierig, gleich vollständig mit meinem Weltbild zu brechen. Also war erst mal nur die Armee Scheiße, später der angepasste Uni-Apparat, dann Werksleiter.
Nach der Uni hatte ich eine kurze „Erholungsphase“ beim Forschungszentrum für Mikroelektronik: Interessierte Kollegen, moderne Computertechnik, eine fesselnde Aufgabenstellung. Wenn wir uns nur richtig Mühe gaben, könnten wir alle Probleme lösen – wie „Atomino“. Mein Motto war das des Pferdes Boxer in Orwells „Farm der Tiere“: „Ich werde noch härter arbeiten.“ Schließlich ging es ja um den Weltfrieden. Und der war bedroht durch amerikanische Atomraketen.
Aber die sowjetischen Mittelstreckenwaffen waren auch nicht ganz harmlos. Vom Schaltkreisentwurf weiß ich um die Komplexität von Systemen, die stets schneller geschaffen als „beherrscht“ sind. Kleine Ursachen wie der Ausfall einer Trafostation legen regelmäßig ganze Regionen lahm. Aber ausgerechnet die Atomenergie wollten wir „im Griff“ haben? Tschernobyl bestätigte diese Skepsis. Und mit dem Zerfall des Sowjetimperiums, mit einer klareren Sicht auf den Stalinismus als Epoche und Wurzel der DDR ging bei mir weit vor deren Ende Ernüchterung einher. Und Suche nach einer neuen Haltung. Noch härter arbeiten, aber nicht missbraucht werden. Nicht Differenzen zukleistern, sondern ansprechen und lösen. So kam die Wende für mich folgerichtig durch massenhaften Wegfall blinder Gefolgschaft.
Mein Weltbild war mal durch nichts zu erschüttern. Außer durch die Praxis. Der „schöne Sozialismus“ funktioniert wohl nur mit dem „idealen Menschen“. Der schöne technische Fortschritt nur bei „Atomino“.
WOLFGANG PRÖHL
Der Autor ist Umweltaktivist und war Stadtrat in Dresden