piwik no script img

WAND UND BODENDas Gesicht im Moment seiner Entstehung

■ Kunst in Berlin jetzt: Anatolij Shuravlev, Jochem Hendricks, S. Paul

Mit mulmiger Neugier begegne ich den jungen Russen: Was ihr Ureigenstes ist, werde ich kaum verstehen, zum einen; zum anderen: Versuche ihrerseits, sich den Stilkonventionen des Westens anzupassen, können nicht — noch nicht — gelingen. Anatolij Shuravlevs Installation im Studio III des Künstlerhauses Bethanien macht schon den Eindruck, als habe sich der junge Mann im Westen umgesehen, aber wirklich nur umgesehen.

Die Formel lautet Strenge und Pathos, Zitat vor Erfindung. In dem Kabinettraum (ziemlich genau die Verdopplung eines passablen Ateliers) stehen vier weiße Figuren, geliehen aus der Abguß-Sammlung Antiker Plastik im Schloß Charlottenburg, männliche Athleten (am Signifikanten beschädigt) und zwei sehr unterschiedliche weibliche Figuren, die eine antik, die andere madonnenhaft verhüllt. Jede der Figuren ist mit weißen Seilen lässig vertäut. Achtung, Achtung: nur symbolisch. Am Kopfende des Raumes eine schwarz gerahmte Cibachrome-Fotografie, 1.70 Meter hoch, die den »Koloß vor dem Tempel von Karnak Ende des 18. Jahrhunderts« zeigt, »Fotografie 1992«. Demnach wäre die Fotografie das farbige Blow-up eines bräunlichen Kupferstichs — was nicht wahrscheinlich ist, denn das Bild, das reproduziert wurde, atmet das Licht der frühen Fotografie.

Egal. Entscheidend ist der Zugriff des russischen Künstlers, Jahrgang 1963, Autodidakt und Gast im Künstlerhaus, auf die Materialien: ganz klar bedient er sich »kolonialer« Kunstgüter, um die Schauplätze des Vergangenen in Erscheinung treten zu lassen. Aber am Auratischen läßt sich so leicht kein Raubbau treiben. Fischli/Weiss, zum Beispiel, wissen das, wenn sie an vergleichbaren Schauplätzen die konventionellen Perspektiven »touristisch« nachstellen. Shuravlev scheint sich noch nicht entschieden zu haben, ob er die »kolonialen« Quellen unserer Sehnsucht nach dem (tatsächlich) Vergangenen analytisch kommentieren will (Inwiefern steuert die Codierung des Altertums zur Zeit der von Humboldts unsere heutige Auffassung des Römischen Reichs, Griechenlands und Ägyptens?) oder ob er selbst diesen Quellen huldigt; möglicherweise in der Hoffnung, an ihrer Beständigkeit zu partizipieren.

Die kleine Eröffnungsschar debattierte allerdings nicht die Installation, sondern die jüngsten Gerüchte um die Auseinandersetzungen zwischen »Art in Ruins« und den Machern des neuen Kunst-Fanzines »241« (siehe Kommentar im überregionalen Kulturteil).

Bis zum 23. August, Di.-So., 14-19 Uhr

Man meint die Typen zu kennen. Der eine hat etwas von Peter Fonda (in »Easy Rider«): das geschlossene Gesicht, die dunkle Brille. Ein anderer, im Profil, ist eine eher flüchtige Figur, skizziert — vielleicht — von Zille oder Steinberg. Aber der gegenüber, ein kahler Typ, trägt Spuren der Wiener Exzessivität, in den Augen das tiefe Schwarz von Arnulf Rainer.

Eine reichlich merkwürdige Arbeit, diese kaum zwanzig schwarzweißen Blätter, die Jochem Hendricks unter dem Titel »Augen Zeichnungen« in der Galerie Vincenz Sala zeigt. Grundlage dieser Portraits sind Fotografien, die Hendricks von Bekannten und Freunden gemacht hat. Diese Bilder wiederum wurden einem physiologisch-technischen Verfahren unterworfen:

Über ein Videosystem werden die Fotografien fixiert. Zu dem System gehört eine Apparatur, in die der Kopf des Probanden, in diesem Fall Jochem Hendricks, eingepaßt wird. Über Infrarotstrahlen werden die Augen des Probanden angepeilt und ihre Bewegungen registriert (während er sich zehn Minuten lang das Fotoportrait des Freundes ansieht). Das Protokoll des Sehvorgangs wird aufgezeichnet und digitalisiert. Was schließlich ausgedruckt wird, ist die Bewegung der Augen auf dem Gegenstand, in deren graphischer Darstellung der Gegenstand, die menschliche Physiognomie, wiedererscheint. Das System hat Hendricks von einem befreundeten Psychologen geliehen, der damit eine Untersuchung durchführt.

Nun bewegt sich jedes Portrait zwischen individuellen und gesellschaftlichen Koordinaten, ob es ein Königsbildnis von Velazquez ist oder eine Portraitfotografie von Thomas Ruff. Der Gewinn an dem Verfahren, dem Hendricks sich unterwirft: die Möglichkeit, die Frage, was genau am Blick des Betrachters gesellschaftlich oder individuell selektiv ist, an den Bildern festzumachen; es ist die technisch simulierte Studie menschlicher Physiognomie in dem Moment, wo sie durch den wandernden Blick (des anderen) als solche entsteht. Interessant ist in diesem Zusammenhang das einzige Portrait einer Frau, das gezeigt wird; es wirkt weich und gelöst, fast aufgelöst, die Schwärzen in den Augen sind bei weitem nicht so kompakt wie bei den Männerbildern. Der Grund, argumentiert Hendricks, sei rechnerisch: die Zeit, die aufgewendet wurde, um ihre Haare zu erfassen (zu sehen), ging im Bereich von Augen und Mund verloren. So sieht man am Bild, was Leuten mit körperlicher Pracht, auffälliger Kleidung oder reichem Schmuck so leicht passiert: sie werden beizeiten nicht wiedererkannt, dem »Betrachter« fehlt in den Zonen des Charakteristischen — Auge, Nase, Mund — die »Aufnahmezeit«.

Es ergeben sich ein paar Fragen. Ist das, was man auf den Portraits erkennt, etwas verborgen »Eigenes« der tatsächlichen Menschen: »Ist« der eine Hollywood, der andere Zille, der dritte Wiener Abgrund? Und wenn nicht, warum bringt das technische Protokoll des Blicks auf die Fotoportraits »Stile« hervor, die dem Gesehenen (dem Portrait) nicht innewohnen können; produziert etwa ein Künstler oder ein jeder Stile allein durch die Wege, die seine Augen auf dem Gegenstand zurücklegen? (Absurd ist diese Vorstellung keineswegs).

Übrigens wird die Bewegung des linken und des rechten Auges getrennt aufgezeichnet und ist bei gleicher rechnerischer Auswertung durchaus verschieden. Hendricks zeigt beide Fassungen und auf einem dritten Blatt die dunklere Überlagerung beider.

Am 6. September — für Hendricks Tag der Finissage — laden das Künstlerhaus Bethanien, Rainer Borgemeister, die Galerien Zwinger sowie Gebauer und Günther (alle SO 36) zwischen 15 und 19 Uhr zu einem Rundgang ein. An diesem Tag präsentiert Jochem Hendricks bei Vincenz Sala weitere »Augen Zeichnungen«, Sehprotokolle von »Landschaften und Stadtansichten«, wie die Galerie verspricht.

Manteuffelstraße 40/41 in Berlin 36, bis zum 6. September, Do. und Fr. 17-20, Sa. 11-14 Uhr.

Vergebens der Besuch bei der Kommunalen Galerie Berlin Friedrichshain, die am Samstag — wie es im Aushang formuliert ist — wegen »fortgesetzter Krankheit« geschlossen war. Die Fotografien des indischen Bildjournalisten S. Paul, Jahrgang 1931, zeigen in streng gebauten Bildern (schwarzweiß) die »archaische« Dritte Welt, die Schönheit großer Mühen. Soviel per Blick durch die Fenster.

Helsingforser Platz 1 (nahe der S-Bahn Warschauer Straße), bis zum 22. August. Di.-Fr. 11-18, Sa. 14-18 Uhr.

Ulf Erdmann Ziegler

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen