WALTRAUD SCHWAB LEKTIONEN : Das Rätsel im Altar
Dass es was mit Heiligen zu tun hat – okay. 1512 eingeweiht – aha. Aber wer oder was ist das Retabel?
Retabel“ – ich kannte das Wort nicht. Das wird mir eine Lektion sein. „Fünfhundert Jahre Prenzlauer Retabel“ stand auf der Einladung zur Tagung. Rätsel, Lehrstunde – ich bin hingefahren. Nach Prenzlau, Stadt in Brandenburg, 20.000 Einwohner, 60 Kilometer bis Stettin, 100 bis zur Ostsee, ein paar alte Steine, Kirchen, Stadtmauern, Plattenbau. Es ist die Stadt, in der die Synthese aus Kriegszerstörung und DDR in der Architektur kondensiert ist. „Das kriegt man nicht mehr raus“, sagt einer später, der auch Stadtführer dort ist.
„Fünfhundert Jahre Prenzlauer Retabel“ – die Umfrage im KollegInnenkreis ergab: nichts. Die Umfrage im Freundeskreis ergab: nichts. Wirft das ein schlechtes Licht auf mich (und die Leute, die mir die liebsten sind)?
Ein Wintersamstag – grau, neblig, kühl. Auf dem Weg zum Veranstaltungsort, dem Museum, Uckerwiek 813, geht eine Frau vor mir die Stettiner Straße, rechts Platte, links Platte, dann die Stadtmauer. In ihrer Hand – wie in meiner – eine Straßenskizze. Wollen Sie da auch hin, fragt sie. Ich nicke. Man lernt sich in Halbsätzen kennen. Sie promoviert über die Mariendarstellungen aus dem Vorbarock in Brandenburger Dorfkirchen. „Und Sie?“, fragt sie. Journalistin, gänzlich ohne Ahnung, nur auf der Suche nach einer Lektion. Herauszufinden sei, was ein Retabel ist. „Soll ich es Ihnen sagen?“ „Um Gottes willen. Wo ich gerade angekommen bin.“ Wenn sie es mir jetzt sagte, könnte ich umkehren. Sie nickt. Wir sind uns nicht unsympathisch.
Dass dieses Retabel was mit Heiligendarstellungen zu tun haben wird, diese Grundlagenkenntnisse lieferte die Abbildung auf der Einladung zur Tagung. Und dass es berühmte Heiligendarstellungen sind, die etwas mit Retabel zu tun haben, ebenso. 1512 eingeweiht. Aber Retabel?
Hundert Leute mindestens zieht es zur Veranstaltung ins Museum: „Ich staune, dass das so gut besucht ist. Was die wohl alle wollen? Darf ich Ihnen meine Tochter vorstellen, sie ist Restauratorin“, sagt eine Frau, die neben mir sitzt und eine Antwort nicht abwartet. Dann, nach den Begrüßungen und Danksagungen, erfahre ich was über das Retabel. Dass es ein großartiges Kunstwerk sei, mit einer wechselvollen Geschichte, dass Prenzlau vor 500 Jahren sehr wohlhabend gewesen sein muss, denn das Retabel war sehr teuer, dass die Lübecker Meister, die die zentrale Madonna mit Kind und die sie flankierenden Heiligen schufen, wohl bei Tilman Riemenschneider gelernt hatten, und die, die den Hintergrund, vor dem die Statuen standen, bemalten, wohl bei Martin Schongauer. Wissenschaftliche Vergleiche werden aufgeführt, die Stirnfalten der Heiligen, die sichelförmigen Augen, Standbein-Spielbein, der Faltenwurf, die Handhaltung, das Holzalter, das Granatapfelmotiv.
Klar wird auch, dass das Prenzlauer Retabel eine Wahnsinnsgeschichte hat. Von Unbekannten gefertigt, im 19. Jahrhundert schändlichst übermalt, im Zweiten Weltkrieg in die Kirchenmauern von St. Marien einbetoniert, für einige Teile jedoch vergeblich, sie wurden zerstört wie die Kirche auch. Was gerettet werden konnte vom Retabel, vor allem die großen Statuen der Heiligen und dreißig kleine, wurde in einer Sakristei aufgehoben, einer feuchten, schlecht belüfteten. Und dann, 1991, nach der Wende, wurde, was Krieg und DDR überlebte, gestohlen. In einem Bordell in Köln fand man einen Teil der geklauten Figuren wieder. Seither hütet man das Prenzlauer Retabel wie einen Schatz und restauriert, so gut es geht.
In der Pause gehe ich zu einem der jungen Kulturwissenschaftler, sage, dass ich Journalistin sei, nicht wisse, auch nach den Vorlesungen nicht, was ein Retabel sei. Er schaut mich entsetzt an und fragt spitz, ob ich nie Kreuzworträtsel löse. Bingo. Ich suche dann doch die Doktorandin, und die erklärt es mir: Retabel sei nur ein anderes Wort für Altar.
In der Marienkirche – die eine Ruine ist, in der nichts ist außer einem riesigen Glaskastenaltar im Chor, in dem die noch existierenden Heiligenstatuen stehen wie im ursprünglichen Altar vor 500 Jahren, vorhandene Heilige neben Lücken für die fehlenden, unvollständig alles, monumental, als ob sich das Licht schlucken ließe – bin ich überwältigt von der Erhabenheit der Geschichtskirche, der Schönheit des Fragmentarischen, der Vergangenheitstiefe, die diese Gegenwart wärmt.
■ Die Autorin ist sonntaz-Redakteurin auf lebenslanger Lernmission Foto: Isabel Lott