„Vorverurteiltes Opfer der Aids-Hysterie“

HIV-infizierte Prostituierte nach dubioser Polizeiaktion zum wiederholten Male festgenommen / Anwalt erreicht jetzt Haftentlassung / Die Lebensgeschichte der 24jährigen spricht für sich / Verdeckter Fahnder drängte sich der Angeklagten auf / Verteidiger lobt Staatsanwalt  ■  Aus München Luitgard Koch

„Aids-Dirne wieder frei“, titelte das Boulevardblatt 'Münchner Abendzeitung‘ kurz und bündig, nachdem der Münchner Anwalt Andreas Grob vor wenigen Tagen die Haftentlassung der HIV-infizierten Sonja S. bekannt gab. Der Fall der 24jährigen Augsburgerin sorgt damit nicht zum erstenmal für mehr oder minder sensationslüsterne Schlagzeilen. Zuletzt stand die junge Frau im Mittelpunkt der Berichterstattung, als sie nach einer dubiosen Polizeiaktion im Juli dieses Jahres festgenommen wurde. Erst wenige Tage vor dieser Festnahme war Sonja S. aus der Haftanstalt Aichach entlassen worden. Dort verbüßte sie ein Drittel ihrer zweijährigen Haftstrafe wegen versuchter gefährlicher Körperverletzung und verbotener Prostitution. In einem aufsehenerregenden Prozeß vor dem Amtsgericht München im Mai 1987 war sie verurteilt worden; erstmals stand eine Prostituierte aufgrund ihrer HIV-Infektion vor Gericht. Als Zeugen im Prozeß traten ihre Kunden auf. Ein Freier tat sich damals besonders hervor. Er behauptete mit Sonja S. in einer Zeit Geschlechtsverkehr gehabt zu haben, während die junge Frau nachweislich bereits in Haft war.

Wenige Tage nach ihrer Entlassung - sie hatte im Gefängnis bereits mit einer Therapie begonnen - wird sie am 12.Juli 1988 im Münchner Nachtlokal „Golden Gate“ von einem verdeckten Ermittler der Polizei angesprochen. Er lädt sie zum Trinken ein und bietet sich der Betrunkenen dann als Freier an. 200 Mark habe Sonja S. gefordert, so der Ermittler bei seiner Zeugenvernahme. Als Beweismaterial markiert er vier seiner Geldscheine, indem er diese mit seinem Autoschlüssel durchstößt. Dieses wichtige Beweismaterial wird zwar von zwei seiner Kollegen noch in der gleichen Nacht bei Sonja S. sichergestellt, tags darauf dem Ermittler angeblich sofort wieder ausgehändigt. Bei der Zeugenvernahme vor Gericht aber fehlen die Beweisstücke. Diese Ungereimtheiten störten niemanden, der rigiden bayrischen Aidspolitik wurde damit Genüge getan.

Die Lebensgeschichte der 24jährigen spricht für sich. Nachdem sie von der Mutter mißhandelt wird, kommt Sonja S. bereits mit sechs Monaten in ein Heim. Ihr Vater ist Alkoholiker und Gelegenheitsarbeiter. Mit fünf Jahren holen sie die Eltern wieder zu sich. Fast täglich wird sie vom Vater mit der Hundeleine geschlagen. Da sie oft den Unterricht versäumt - sie schämt sich ihrer blauen Flecken landet sie auf der Sonderschule. Mit neun Jahren wird sie vom Vater vergewaltigt. Ihre Mutter glaubt ihr nicht. Erst als der Vater versucht, auch ihre älteste Schwester sexuell zu mißbrauchen, läßt sich die Mutter scheiden. Zwei Jahre später wird die Mutter wegen Kindesmißhandlung an ihrer Tochter Sonja zu neun Monaten auf Bewährung verurteilt. Sonja S. kommt in ein Waisenhaus. Dort reißt sie immer wieder aus. Mit elf Jahren geht sie zum erstenmal auf den Strich und beginnt zu trinken. Außer Alkohol schluckt Sonja S. auch Tabletten. Es folgen mehrere Selbstmordversuche und verschiedene Aufenthalte in psychiatrischen Kliniken. Mit 15 Jahren geht sie nach Frankreich. Sie arbeitet als Bedienung, lernt einen Deutschen kennen und bekommt von ihm ein Kind. Bei einem Autounfall sterben ihre acht Wochen alte Tochter und ihr Freund. Anschließend trinkt sie wieder und geht nach Deutschland zurück. Innerhalb kürzester Zeit geht sie wieder anschaffen. Zuerst in Frankfurt, dann im Münchner Sperrbezirk. Dort wird sie zum erstenmal verhaftet und erfährt dabei von ihrer HIV-Infizierung. Nach ihrer Entlassung im Frühjahr 87 wird wegen Verdachts der Prostitution bundesweit nach ihr gefahndet.

Das neuerliche Verfahren gegen Sonja S. wurde jetzt von der Staatsanwaltschaft eingestellt und der Haftbefehl aufgehoben. Ihr Rechtsanwalt Grob konnte nachweisen, daß gegen seine Mandantin niemals ein Berufsverbot nach dem Bundesseuchengesetz verhängt wurde. Ein Verstoß dagegen wäre eine Straftat. Wie der Anwalt feststellte, bestand jedoch allenfalls eine Untersagung jeglicher Gewerbeunzucht und somit lediglich eine Ordnungswidrigkeit. Dieses angebliche Berufsverbot - Mitarbeiter des Gesundheitsamtes hatten es bestätigt - spielte jedoch bereits im Prozeß vom Mai 87 eine zentrale Rolle. Deshalb beantragte der Anwalt jetzt eine Wiederaufnahme des Verfahrens. Gleichzeitig erstattete er Strafanzeige gegen die Mitarbeiter des Gesundheitsamtes, da sie seiner Ansicht nach das Gericht bewußt falsch informiert haben. Gelobt wurde vom Anwalt hingegen die Staatsanwaltschaft. Nach der Aufklärung des tatsächlichen und rechtlichen Sachverhalts habe sie sich in beispielhafter Weise für die Haftentlassung von Sonja S. eingesetzt. Engagiert für „das vorverurteilte Opfer der von der Staatsregierung geschürten Aidshysterie“ hat sich auch die grüne Landtagsabgeordnete Christine Scheel. Sie bemühte sich um einen Anwalt für Sonja S.