■ Vorschlag: „Seele ohne Haut“ – Tagebuchtexte von Etty Hillesum auf der Bühne
Dort gehört so etwas hin: in einen großen, leeren Raum unter das Dach eines alten Hauses, vor eine schmutziggelbe Wand, das Publikum auf einfachen Stühlen im Halbkreis. Hier wird die Begegnung ermöglicht mit einem Tagebuch, geführt in Holland, unmittelbar vor der Deportation nach Auschwitz, 1941-43, und immer im vollen Bewußtsein des bevorstehenden Todes, ohne Verdrängung und falsche Hoffnungen. Peggy Lukac hat aus dem inneren Monolog der 27jährigen Etty Hillesum ein Ein-Personen-Stück gemacht, das letztlich zur Aufforderung wird, den Text selbst zu lesen – und tatsächlich liegt das Tagebuch auch aus. Es dokumentiert den Lernprozeß einer jungen Frau, die gerade in dem Grauen und Verbrechen um sie herum die Kraft des Geistigen entdeckt, und die uns miterkennen läßt, daß Religiosität keine Weltflucht, sondern ihr Gegenteil sein kann. „Nicht mitzuhassen, mitzulieben bin ich da“ – mit dieser iphigenischen Haltung bewies sie sich als allen ihren Mördern überlegen und ging, wie ein letzter Brief berichtet, mit erhobenem Haupt auf den Transport. Dichterin hatte sie werden wollen: es war ihr nicht vergönnt, „für das übervolle und reiche Lebensgefühl in mir ein einziges Wort zu finden, mit dem ich alles auszudrücken vermag.“
Statt dessen das Tagebuch, das erst Anfang der achtziger Jahre publiziert wurde. Für „Seele ohne Haut“, ihre Inszenierung im Probenhaus Kulturamt Mitte, hat Peggy Lukac die wohl eher publikumswirksamen, die erotischen Passagen herausgelöst (den Anstoß zum Tagebuch gab eine Liebesbeziehung). Das geht auf Kosten jener universaleren Linie, die das spirituelle Wachstum der jungen Frau hätte zeigen können. Die Darstellerin Maria Hartmann ist – jedenfalls im ersten Drittel des Abends – dadurch auf eine affektierte Bahn geraten. Sie berichtet von Sexualität und kokettiert eher mit ihren schauspielerischen Techniken, als daß es ihr gelingen würde, Intimität herzustellen. Erst allmählich läuft sie sich innerlich warm, und man beginnt zu ahnen, welcher Reichtum in diesen Texten steckt. Ganz und von Anfang bis Ende kongenial hingegen die Musik von Dagmar Andrtová, deren Gitarre Tonfarben erzielt, die bisweilen wie die Klarinettenmelodien des Klezmer klingen. Schon allein für diese Entdeckung ist der Abend ein Gewinn. Ekkehart Krippendorff
„Seele ohne Haut“ – Das Tagebuch der Etty Hillesum, 13.-16. und 20.-22. 6., 20.30 Uhr, Probenhaus, Kulturamt Mitte, Koppenpl. 3/4.
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