■ Vorschlag: Die „heilende Kraft der Sprache“: Anne Michaels im Literaturhaus
„Die Arbeit an meinem Buch hat mich in dem Glauben an die Güte kleiner Taten bestärkt“, sagte die kanadische Lyrikerin Anne Michaels vor der Lesung ihres Debütromans „Fluchtstücke“ in Hamburg. Wochenlang war der Roman der 38jährigen Michaels in Kanada an der Spitze der Verkaufslisten. In Deutschland wird das Buch seit seinem Erscheinen im Februar heftig diskutiert, erzählt „Fluchtstücke“ doch in lyrischer Prosa die fiktive Geschichte eines Holocaust-Überlebenden und eines Nachgeborenen. Die ersten zwei Drittel werden aus der Perspektive Jakob Beers, eines in Toronto lebenden Dichters und Übersetzers polnisch-jüdischer Abstammung, erzählt: Als Kind kann er als einziger seiner Familie vor den Nazis fliehen und wird von dem griechischen Archäologen Athos Rousso gerettet, der ihn als seinen Sohn annimmt, ihn langsam aus seinem Trauma herausführt und nach dem Krieg mit Jakob nach Toronto zieht. Wirklich verheilen können Jakobs psychische Wunden aber erst dank der Liebe seiner zweiten Frau. Im letzten Drittel schwenkt die Ich-Perspektive auf Ben, einen Freund Jakobs, über, der nach dem tödlichen Unfall des Ehepaares Nachforschungen über Jakob anstellt und so auch mit seiner eigenen, von den Eltern verschwiegenen Holocaust-Vergangenheit konfrontiert wird.
Sieht man für einen Moment von der Holocaust-Thematik ab, scheint das nah am Kitsch gebaut: Liebe als einzige Macht, die Menschen dem Horror entgegenhalten können. Wolfram Schütte sah das anders. Er schrieb „Fluchtstücke“ in der Frankfurter Rundschau die gleiche Bedeutung für den Roman zu, die Paul Celans „Todesfuge“ für die Poesie hatte. Auch Michaels habe es geschafft, über das Unaussprechliche zu sprechen. Sigrid Löffler hingegen kritisierte in der Zeit gerade die Schönheit der Sprache, die dem Grauen des Erinnerns nicht gerecht werde, und fragte, ob Nachgeborene überhaupt über den Holocaust schreiben könnten. Für die Jüdin Michaels, die über zehn Jahre an ihrem Roman schrieb, hat sich diese Frage nie gestellt. Bisher wurde sie auch nie gefragt, ob sie Jüdin sei, „für mich eine wunderbare Erfahrung, da die Geschichte wohl über ein bestimmtes Schicksal hinausgeht. Und genau das wollte ich: über die Essenz der Menschlichkeit und Moralität schreiben.“
Die heutige Lesung wird Michaels mit ihrer Übersetzerin Beatrice Howeg bestreiten. Sie freue sich darauf, ihr Buch „in deutsch gelesen zu hören“, sagte sie in Hamburg. Denn Sprache sei „eine heilende Kraft“. Ania Mauruschat
Heute um 20 Uhr im Literaturhaus Berlin, Fasanenstraße 23
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen