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■ VorschlagMichael Zinganel vermißt Raum und Leben bei Wiensowski & Harbord

An die Räume in der Goethestraße ist er nur zufällig gekommen. Ein Jahr war der österreichische Installationskünstler Michael Zinganel Stipendiat im Künstlerhaus Bethanien, jetzt klebt das Ergebnis quer durch alle Räume der Galerie Wiensowski & Harbord verteilt auf dem Fußboden. Weiße und rote Streifen führen vom Schlafzimmer zum Flur, biegen links um die Ecke und enden an der Balkontür oder vor einem Stapel mit Tageszeitungen. Manchmal verlaufen gleich mehrere Streifen dicht nebeneinander, wenn die Spur zum Badezimmer oder in die Küche führt; manchmal irrt auch nur ein verlorener roter Strich durch die fast leergeräumten Zimmer.

Die Ansammlung der hübschen, zumeist wohlgeordneten Muster soll die Lebensgewohnheiten von Ingeborg Wiensowski und Roland Harbord spiegeln. Jeder Weg, den die beiden Morgen für Morgen abschreiten, wurde von Zinganel sorgfältig mit einem Klebeband markiert. Damit sich die täglichen Rituale nach Personen unterscheiden lassen, wurden sie mit verschiedenen Farben nachgezeichnet. Die weißen Spuren sind spärlicher, weil Frau Wiensowski später aufsteht und dann bald das Haus verläßt. Herr Harbord muß Frühstück machen, darum wimmelt es in der Küche von roten Streifen.

Die Räume sind ohnehin karg möbliert: Ein Schreibtisch, drei Korbsessel, ein Bauernschrank und ein Ledersofa, sonst gibt es nichts. Dazu läuft ein Video mit Interviews, in denen Leute aus Zinganels Bekanntenkreis ihre Wohnsituation beschreiben: Einige kochen zuerst Kaffee, bevor sie ins Bad gehen; andere müssen sich täglich durch den wachsenden Kleiderberg ihrer Kinder wühlen. In der Regel sieht die Welt am Morgen überall noch recht passabel aus.

Im Gegensatz zum Leben der Boheme stehen acht Fotos, die Zinganel im Plattenbau aufgenommen hat. Dort wurde der Alltag ehemaliger Mieter als Bodenzeichnung rekonstruiert. Wo früher der Eßtisch stand, versammeln sich lauter abgetrennte Spuren vor einem imaginären Quadrat, auf der Toilette drängen sich die Farben. Am Ende funktioniert das minimalistische Geflecht als soziologische Studie: Galeristen wohnen großzügig, Arbeiter eher beengt. Über die damit einhergehende Qualität sagt die Arbeit nichts aus – Ingeborg Wiensowski ist ohnehin kaum zu Hause. Harald Fricke

„Morning Walks“, bis 11.10., Mi.–Sa. 14–19 Uhr, Goethestraße 69

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