Vormarsch des AC Milan: Von der Witzfigur zum Matchwinner
Nach einem katastrophalem Start hat sich der AC Milan auf Platz eins geschoben. Das ist in erster Linie das Verdienst von Trainer Ancelotti. Auch Ronaldinho ist nicht unbeteiligt.
Jede Durststrecke geht einmal zu Ende. Es war ja kaum zu glauben, aber viereinhalb Jahre musste der AC Milan warten, um wieder einmal an der Spitze der Tabelle der Serie A zu stehen. Trug der Titelgewinn im Mai 2004 vor allem die Handschrift des genialen Roberto Baggio, so lautet die Signatur nach dem prestigeträchtigen Zwischenschritt im November 2008 ganz eindeutig - Ronaldinho. Der vor Monaten in Barcelona noch als Witzfigur verlachte Rastalockenträger mit dem kindlichen Lächeln hat sich in der lombardischen Lounge der Ballsenioren wieder Matchwinner-Qualitäten angeeignet. Ein fulminanter Kopfstoß des Brasilianers hatte vor fünf Wochen das Stadtduell gegen Inter entschieden. Am Sonntagabend hatte sich ein scharf geschossener Freistoßball Ronaldinhos von Linksaußen, der von Neapels Denis nur minimal abgefälscht wurde, wunderschön ins Netz gesenkt und sowohl den Sieg gegen die explosive Truppe vom Fuße des Vesuvs als auch die Führung im Klassement beschert.
Milan, von zwei Auftaktniederlagen zunächst arg gebeutelt, ist endlich zurück in der Auseinandersetzung um den Scudetto. Zu verdanken haben die Rot-Schwarzen dies einer neuen, unerwarteten Balance von Kampfkraft und Kreativität. Als beweglicher, kompakter Mittelstürmer im Stile eines Ruud van Nistelrooy lässt Marco Borriello der gegnerischen Abwehr kaum Zeit zum Atemholen. Er dient als Anspielstation für weite Schläge, ist im Strafraum stets präsent und verblüfft sogar als passabler Flankengeber. Der Neuzugang aus Genua hat die namhafteren Kollegen Inzaghi und Schewtschenko aus der Stammformation verdrängt. Er schafft gemeinsam mit den Schwerstarbeitern auf den Außenbahnen, Gattuso und Zambrotta, sowie Ambrosini im zentralen Mittelfeld die Basis, auf der Kaká und Pato, Ronaldinho und Seedorf brillieren können - wenn diese sich in einem wettkampffähigen körperlichen Zustand und der entsprechenden Laune befinden.
Das geschieht nicht immer, aber doch schon jedes zweite Spiel. Und Trainer Ancelotti hat es immer besser heraus, seinen Kreativspielern noch vor dem Aufwärmen die aktuelle Verfassung anzusehen und danach die Aufstellung zu bestimmen. Gegenwärtig kommt Milan sogar das Fehlen des verletzten Spielgestalters Andrea Pirlo zugute. Der ist technisch zwar brillant, braucht aber das auf Schneckentempo verlangsamte Spiel, um daraus seine Geistesblitze zu entwickeln. Mit Ambrosini, Gattuso und Zambrotta ist im Zusammenspiel einiges dem Zufall überlassen. Weil vorn aber Borriello rackert, erwächst aus manchem Zufall plötzliche Gefahr. Und wenn die drei Brasilianer einmal ins Laufen kommen, Ronaldinho eher links, Kaká und Pato rechts und zentral rochierend, dann ist Offensivfußball in höchster Perfektion geboten. Dann weisen die Eintrittskarten fürs Meazza-Stadion ein besseres Preis-Spektakel-Verhältnis auf als die Billetts für die Scala. Und man versteht, warum 65.000 Mailänder in den ansonsten reizlosen Nordwesten der Stadt ziehen und dort glückstrunkene zwei Stunden verbringen.
Wichtig bleibt halt nur, dass Carlo Ancelotti sich die jüngst erworbene Fähigkeit als Stimmungsbarometer seiner Stars erhält. Sonst dauert es wieder viereinhalb Jahre, bis Milan die Konkurrenz in der Serie A auch rechnerisch von oben betrachten kann. In der eigenen Vorstellungswelt war Milan ja nie weg von der Spitze. "Wir tun nur unsere Pflicht. Ich bin nicht aufgewühlt wegen des ersten Tabellenplatzes", beschied Milans amtierender Präsident Adriano Galliani kühl der Öffentlichkeit. Und Inter, jetzt einen Punkt zurück? "Ach was, Inter. Da schauen wir gar nicht hin", meinte Ancelotti.
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