■ Vorlesungskritik: Vorhang auf und alle Fragen offen
Vorträge im Theater haben immer etwas Trauriges. Der Vorhang bleibt oben, auf der kahlen Bühne stehen nur ein Tisch und ein Stuhl, echt antik, versteht sich. Noch problematischer wird es, wenn ein lebendes Denkmal spricht. Dann gerät schon die Einführung durch ein Ensemblemitglied zur Peinlichkeit, der auch Eva Matthes, Direktorin des Berliner Ensembles, nicht ausweichen konnte. „Hans Mayer hier im BE vorstellen zu wollen hieße...“, so begann sie, stockte dann eine Weile, um schließlich fortzufahren, „...uns unterstellen, wir hätten seine Bücher nicht gelesen“. Etwas Passenderes war ihr offenbar nicht eingefallen.
Über Brecht und Beckett wollte der Literaturwissenschaftler Hans Mayer am Montag im Berliner Ensemble sprechen, der Untertitel des Vortrags lautete „Erfahrungen und Erinnerungen“. Wer seine Bücher gelesen hatte, konnte sich ungefähr vorstellen, was das heißen sollte. Mayer würde anderthalb Stunden über seine Begegnungen mit Brecht, Beckett und anderen wichtigen Leuten des Literaturbetriebs sprechen. „Ich sehe sie beide vor mir, ich höre ihre Stimme“, sagte er dann auch einleitend, das Thema sei mithin „ein Teil meines eigenen Lebens“. Da verwunderte es ein wenig, daß er gleich danach betonte, „das Anekdotische darf nicht gelten“.
Als Vergleich wollte er seinen Doppelvortrag freilich nicht verstanden wissen, denn diese für Magister- und Doktorarbeiten höchst beliebte Methode sei angesichts der Individualität jedes Schriftstellers „ein vollkommen unsinniges wie unnötiges Unterfangen“. Einen gemeinsamen Nenner fand er dennoch. „Zwei sehr einsame Menschen“ seien Brecht und Beckett gewesen, die versucht hätten, „jeden Moment ihres Lebens in ein Werk von Dauerhaftigkeit zu verwandeln“. Schaut man auf die Zahl der Publikationen des 87jährigen Mayer, schwant einem, wieso er sich den beiden verbunden fühlt.
Ohne also zu vergleichen, stellte er Brechts „Der gute Mensch von Sezuan“ Becketts „Warten auf Godot“ gegenüber. Frei sprechend und assoziierend legte er den Schwerpunkt bei Brecht auf die Quellen, aus denen sich das Stück speiste, bei Beckett dagegen auf die Aufführungs- und Rezeptionsgeschichte. Natürlich war er immer selbst dabei. „Herr Palitzsch wird das bestätigen können“, wandte er sich an einen der Hausherrn – als gelte es, letzte Zweifel auszuräumen.
Auf der Bühne, auf der noch vor zwei Jahren eine fürchterlich schlechte und gräßlich belehrende Sezuan-Inszenierung zu sehen war, nutzte er die Gelegenheit zu einer Abrechnung mit stalinistischer Kunstauffassung. Zwar betonte er, Georg Lukács sei für ihn ein „großer Lehrer“ gewesen, doch argumentierte er gegen dessen säuberliche Trennung zwischen Brecht als Vertreter „reinlichen Fortschritts“ und Beckett als Repräsentanten „abscheulicher Dekadenz“.
In seiner Auseinandersetzung mit der DDR ist der 1963 aus Leipzig vertriebene Professor, der danach eine Professur in Hannover erhielt und jetzt in Tübingen lebt, noch zu keinem Ende gekommen. In seinem Buch „Der Turm zu Babel“ (1991), einer unentschlossenen Bilanz von vierzig Jahren DDR, hält er im Grundsatz am sozialistischen Experiment fest.
Daß nach dem Vortrag kein Vorhang fiel, ist auch deshalb schade, weil die Vorlesungskritik nicht mit jenem ausgelutschten Zitat aus dem Sezuan-Epilog schließen kann, auf das auch Hans Mayer nicht verzichten mochte, obwohl er seinen Kritiker-Kollegen Marcel Reich-Ranicki ansonsten überhaupt nicht mag. Die Fragen nach der Transzendenz, die er am Ende aufwarf, blieben trotzdem offen. Ralph Bollmann
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