■ Vorlesungskritik: Mein Name ist Professor Sisyphos
In seiner „Kritik der Warenästhetik“ beschreibt Wolfgang Fritz Haug, wie Waschmittelkartons oder Herrenslips ihren Inhalt in besseres Licht setzen sollen. Er selbst aber betreibt seine Verpackungskünste unter umgekehrten Vorzeichen. Auch die härtesten Urteile fällt er mit kalter, emotionsloser Stimme. Totenstille herrscht im weißgetünchten, klinisch reinen Pharmazie-Hörsaal, in dessen Weite sich ein paar Dutzend Studenten verlieren. Keiner von ihnen wagt einen Ton zu sagen, während Haug leise, aber mit brillanten Formulierungen seine Gedankengänge in scheinbar endlosen Windungen aufwärts schraubt, um hoch über dem Abgrund unvermittelt innezuhalten.
Seit einem Vierteljahrhundert doziert er jeden Montagabend von sechs bis neun über Marxens „Kapital“ – eine Westberliner Institution, die der damalige Wissenschaftssenator Peter Glotz 1978 gegen den erbitterten Widerstand der Frontstadt-Kämpen mit einer kargen C2-Professur absicherte. Zu den besten Zeiten stritten sich 500 Studierende um die einzig wahre Marx-Exegese. Geblieben sind allein die Züge eines Gottesdiensts. Wer etwas auf sich hält, bringt den jeweils einschlägigen blauen Band, einem Gesangbuch gleich, zur Andacht mit. Die Seitenzahlen verkündet Haug, als handele es sich um Bibelstellen. Und wenn er daraus vorliest, begibt er sich ans hölzerne Halbrund des kanzelgleichen Katheders.
Auf dem Semesterprogramm steht eine „wissenschaftstheoretische Einführung“ in das Hauptwerk des Propheten. Haug verteilt eine Rezension, mit der Engels im Volk einer sozialliberalen Öffentlichkeit das „Kapital“ nahebringen wollte. Darin führt Engels Marxens Methode auf die Hegelsche Logik zurück. Das nimmt Haug zum Anlaß, die Studenten durch den ersten Abschnitt von Hegels „Wissenschaft der Logik“ zu quälen. Aber noch bevor sie recht begriffen haben, warum das Sein „in der Tat Nichts und nicht mehr noch weniger als Nichts“ ist, offenbart er ihnen die Sinnlosigkeit des Unterfangens. „Man sollte unumwunden aussprechen, daß diese Denkweise einfach tot ist.“
Haug hat seine Hörer bewußt auf einen Holzweg gelockt, getreu der aristotelischen Maxime, daß Lernen weh tue. Als Mahnung auch, „nicht jede Phrase von Marx zu übernehmen, als wäre sie die reine Wahrheit“, mithin wählerisch zu sein bei der Aufnahme der Tradition. Hegel selbst habe seinen Irrtum am Ende seines Lebens erkannt und als Konsequenz bereits den vermeintlich postmodernen linguistic turn vollzogen. Auch beim späten Marx sieht er in den „Randglossen zu Wagner“ eine solche Wendung. Freilich wäre Haug kein Marxist, folgte nicht die Warnung auf dem Fuße, Sprachanalyse könne Gesellschaftsanalyse nicht ersetzen.
Es ist offenkundig, daß keiner der Studenten Haug wirklich versteht. Vergeblich drängt er zu begrifflicher Präzision, führt im Hörsaal Wittgensteins „Kampf gegen die Verhexung unseres Verstandes durch die Mittel unserer Sprache“. Anstatt aber deren wichtigtuerisch aufgeblasene Begrifflichkeit einfach zu ignorieren, kommt Haug auf die Äußerungen seiner Hörer wieder und wieder zurück. Als äußeres Zeichen der Mißbilligung fällt er, der seine Studenten sonst duzt, ins Sie. „Wir gehen auf das Ende des Semesters zu“, beklagt er die Erfolglosigkeit seiner Mühen. „Mein Name ist Professor Sisyphos.“ Ralph Bollmann
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