■ Vorlesungskritik: Aktiv leben
Wahren Fortschritt gibt es nicht. Zwar türmt die Menschheit von Jahr zu Jahr mehr Wissen auf, doch über die Grundfragen zerstreitet sich jede Generation aufs neue. Nicht nur im Studentenparlament diskutieren Nachwuchsfunktionäre den Konflikt zwischen Prinzipien und Pragmatismus jedes Jahr bis zur bitteren Neige aus. Auch in den Sozialwissenschaften streiten Neoliberale und Kommunitaristen mit einer Schärfe, als hätten sich nicht schon im Florenz der Renaissance die Geister an der Frage geschieden, ob der Mensch seine wahre Bestimmung eher in völliger Freiheit oder durch aktive Partizipation am Gemeinwesen finden könne.
Weil es die Begriffe „Liberalismus“ und „Republikanismus“ damals noch nicht gab, stellte ihnen der Politikwissenschaftler Herfried Münkler vorsichtshalber die Vorsilbe „proto“ voran – auf daß ihm niemand ahistorisches Denken unterstelle. Die Gefahr ist groß, bewegt sich doch die Geschichte der politischen Ideen stets so flink durch die Jahrhunderte, daß dem unbedarften Zaungast ganz blümerant wird.
Auch Münkler konnte, als er über die Renaissance redete, von der Antike nicht schweigen. Kurzerhand erklärte er Aristoteles, der das „theoretische“ Leben dem „politischen“ vorzog, zum Liberalen avant la lettre. Cicero, der das „aktive“ Leben höher schätzte als das „kontemplative“, gilt Münkler als dessen republikanischer Widerpart.
Die „Selbstorganisation der italienischen Handelsstädte“ machte das Problem fast anderthalb Jahrtausende nach dem Ende der römischen Republik wieder aktuell. Münklers Zeugen stammten allesamt aus Florenz – an den Arno habe es jeden gezogen, „der etwas auf sich hielt“. Fast so wie heute nach Berlin: Münkler selbst, der zuvor seine gesamte akademische Karriere als Schüler und Nachfolger des sozialdemokratischen Vorzeige-Intellektuellen Iring Fetscher in Frankfurt am Main verbracht hatte, erlag vor fünf Jahren dem Lockruf der Humboldt-Universität.
Einzig Petrarca mußte die Stadt seiner Vorfahren zeitlebens meiden, war doch sein Vater von dort verbannt worden. Das verleidete ihm die Politik so sehr, daß er die „Vita solitaria“ selbst „dem Ruhm und der Größe des Kaiserthrons“ vorzog. Der Florentiner Kanzler Coluccio Salutati hingegen erklärte das Zusammen-Handeln der Bürger zur Grundlage staatlicher Macht. Ein Jahrhundert später brachte Machiavelli die Debatte auf den heikelsten Punkt: Der Republikaner müsse für die Res publica notfalls auch das Leben opfern – und nicht, wie damals üblich, Schweizer Söldner engagieren.
Hier mochte das Auditorium Münklers republikanischer Begeisterung nicht mehr folgen. Die „Partizipationserwartung“, warnte ein Zuhörer, drohe in Nötigung umzuschlagen. Dann, gestand Münkler, habe sich das republikanische System „selbst destruiert“. Ralph Bollmann
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