■ Vorlesungskritik: Höllenfahrt ins Paradies
Der Titel versprach viel. Über „Techno, Goya und das Paradies“ sollte Diedrich Diederichsen, von den Veranstaltern als „Dieterich Diedrichsen“ angekündigt, im repräsentativen Senatssaal der Berliner Humboldt-Universität dozieren. Doch der Philosoph der Popkultur, der in Köln die Zeitschrift Spex herausgibt und in Stuttgart an der Merz-Akademie lehrt, ist arg beschäftigt. Deshalb mußte er kurzfristig Termin und Thema wechseln, in einem schäbigen kleinen Kollegraum seine Gedanken über „Pop und Paradies“ ausbreiten.
Das akademische Viertel überzog Diederichsen um volle 20 Minuten. Sich dafür zu entschuldigen hätte der 40jährige Berufsjugendliche mit seinem coolen Image freilich nicht vereinbaren können. Schließlich standen Deutschlands Fußballer an jenem Abend im Achtelfinale, und da mußte er „die Verlängerung im Taxi absitzen“.
Als er dann endlich zur Sache kam, löste Diederichsen die Versprechungen auch des abgespeckten Vortragstitels nicht ein. Mehr als eine Stunde lang redete er über Details der Entstehungsgeschichte einer einzigen Platte, Van Dyke Parks' „Discover America“. Mit höchstem pseudotheoretischem Aufwand lobte er das „Gesamtkunstwerk“, das ein irdisches Paradies als konkrete Utopie mit einer himmlischen, von der Linken als „eskapistisch“ kritisierten Paradiesvorstellung „strukturalistisch in Form einer Matrix“ verschränke.
Parks' ästhetischer Ansatz, „unter dem Einfluß psychedelischer Drogen“ entwickelt, blieb jedoch weitgehend unverstanden. Daß man trotzdem Erfolg haben kann, beweist Diederichsen tagtäglich selbst. Freilich versteht er es, seine Gedankenfetzen durch den tiefen Ernst des Vortrags mit Bedeutsamkeit aufzuladen. Seine Mundwinkel wiesen auch dann noch streng nach unten, als er die vermeintlich „paradiesische“ Platte endlich auflegte. „Ja, das wär's dann“, markierte er das Ende seines Vortrags und erntete höflichen Applaus.
Ein besonders beflissener Zuhörer wollte noch etwas über Frank Zappas kulturpessimistische Hollywood-Kritik hören. Daß Diederichsen sich entschieden auf die Seite des „nichtzynischen Antipoden“ Parks schlug, der auch an jenem „Ort der avancierten Künstlichkeit“ durchaus „anarchistische Einzelkämpfer“ ausmachen konnte, überraschte nicht. Schließlich hatte er schon in den hedonistischen achtziger Jahren die altlinke Verachtung einer Populärkultur à la Hollywood auf den Müllhaufen der Geschichte befördert.
Weitere Fragen hatte das verbliebene Publikum von einem guten Dutzend Köpfen nicht mehr. Es schien in jene psychedelische Stimmung entrückt, die Diederichsen zuvor so wortreich wie uninspiriert beschrieben hatte. Schon Mark Twains Romanheld Huckleberry Finn fand das Paradies so langweilig, daß er sich lieber in die Hölle wünschte. Ralph Bollmann
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